Ihr habt lange nichts von mir gelesen, was daran lag, dass ich meinte, meine Beiträge würden sich inhaltlich wiederholen, und ich hätte nichts Neues zu berichten. Aber jetzt möchte euch davon erzählen, wie Rumpelstilzchen bei zwei Patientinnen auftauchte und mich ins Überlegen brachte, wie sich das Märchen in ihrer Lebenssituation widerspiegelte.
Es waren schon oft Klientinnen bei mir, deren Geschichte der von Schneewittchen (eifersüchtige Mutter), Aschenputtel (kleingemacht von eifersüchtigen Schwestern), Rapunzel (Befreiung von mütterlicher Vereinnahmung) oder Dornröschen (Erstarrtes wiedererwecken) ähnelte – aber das Märchen vom Rumpelstilzchen kam in meinen bisherigen Therapiesitzungen scheinbar nicht vor.
Wofür steht Rumpelstilzchen, was symbolisiert es? Was ist der Sinn der Forderung nach dem ersten Kind der Müllerstochter? Warum zerreißt es sich, als es entdeckt und sein Name erraten wird? Und warum heiratet die Müllerstochter am Ende den König, der sie in eine üble Lage gebracht hatte? Diese Fragen hatte ich mir nie zuvor gestellt…
Bis Marlene wegen eines OP-Traumas und anhaltenden Schmerzen zu mir kam, eine junge Frau Mitte Zwanzig. Während wir an dem arbeiteten, was sie beim Ablauf der Op, insbesondere bei der Einleitung der Narkose, traumatisiert hatte, merkte ich, dass Marlene „einfror“, dass ihr Körper erstarrte, und sie kaum zu atmen schien. Zu meinem Erstaunen reagierte Marlene auf meine Rückmeldung mit den Worten „Das kenne ich gar nicht anders“, und sie meinte nicht nur während ihrer Flashbacks, wenn etwas sie an die Op erinnerte, was häufig geschah. Ausgelöst wurden sie durch einen ähnlichen, künstlichen Geruch oder wenn ihr etwas zu nahe kam, körperlich oder seelisch, sodass ihre Selbstbestimmung, das Gefühl, über sich verfügen und selbst entscheiden zu können, in Gefahr geriet.
Ob sie das Erstarren auch schon von früher kenne? Marlene nickt. Sie bemerke es gar nicht mehr. In der Schule habe sie immer sehr aufgepasst, dass sie nichts falsch mache, und zu Hause, dass sie sich gut benehme. Das sei ihr immer sehr wichtig gewesen. Wenn sie mal laut gewesen sei, habe man sie zurechtgewiesen, was bei den Geschwistern nicht passiert sei. Sie sei immer „wie eine Prinzessin“ gewesen, tadellos und aufmerksam. Außerdem habe ihr Vater – sicher gut gemeint – sie stark unter Leistungsdruck gesetzt, manchmal sei sie vor ihm weggelaufen.
Ich frage ein bisschen weiter und Marlene erzählt, dass sie der Liebling von ihrem Großvater und wie stolz er auf sie gewesen sei. Dazu fällt mir der Müller im Märchen von Rumpelstilzchen ein. Es beginnt mit einem stolzen Vater, der mit der Tochter vor dem König angibt – was ich als Kind schlimm und bedrohlich fand. Ich mochte das Märchen nicht. Die arme Müllerstochter gerät durch ihren Vater in eine ausweglos erscheinende Gefangenschaft. Sie muss nun, eingesperrt in einer Scheune, dem König, dem Übervater, auf Gedeih und Verderb etwas liefern, was er unbedingt haben will, um reicher zu sein. Ich konnte ihr, der Müllerstochter und auch Marlene, diese absolute Überforderung nachfühlen, wie vermutlich viele Töchter.
Heute kann ich das einordnen: die Tochter wird vom Vater oder Großvater narzisstisch verwendet, er schmückt sich mit ihr und wertet sich damit auf, während die Tochter stets großartig sein muss.
Wie sie wirklich ist, muss sie in sich verschließen, sie muss Unmögliches erreichen, Stroh zu Gold spinnen, wie die Tochter im Märchen, während ihr wahres Wesen und ihre echten Bedürfnisse unerkannt und unerfüllt bleiben. Sie spielen einfach keine Rolle.
Die unter Druck stehende Tochter ist innerlich in einer Falle, sie muss stets glänzen und der Erwartung des „Übervaters“, des Königs, der immer noch mehr will, unbedingt Genüge leisten. Sie ist in diesen übertriebenen, ihr fremden Erwartungen und Forderungen gefangen. Sie muss etwas von sich hergeben, zunächst dem Rumpelstilzchen ihre goldene Kette und ihren Ring, um kurzfristig der Bedrohung zu entkommen. Schließlich winkt beim dritten Mal ein überaus wertvoller Lohn: die Heirat mit dem König, der Aufstieg zur Königin.
Als Kind fühlte ich den Schrecken der Müllerstochter intensiv mit. Es wäre ihr Ende gewesen, wenn Rumpelstilzchen nicht erschienen wäre.
Es übernimmt die unmögliche Aufgabe, welch ein Glück! Wenn es nur nicht beim dritten Mal ihr erstes Kind fordern würde, ihr Herz, ihr Ein und Alles! Sie lässt sich darauf ein, um der Gefangenschaft zu entkommen, sie liefert dem König das Gewünschte, das Gold, aber ihr Kind, Teil ihres ureigenstes Wesens, ihre Spontaneität, ihr innerstes Gut, wird sie Rumpelstilzchen dafür geben müssen. Sie hat keine Wahl.
Marlene erkennt etwas von sich in dem Märchen wieder. So wie Rumpelstilzchen sich verbirgt, namenlos bleiben muss und sich nach etwas Lebendigem sehnt, so halte sie sich stets zurück, füge sich den Anforderungen und sei meist angespannt. Sie zeige sich nicht, vor allem nicht in ihrem Leid.
„Ich nehme meine Gefühle wahr, aber ich drücke sie nicht aus“, sagt Marlene.
Für mich fühlt es sich mit Marlene manchmal so an, als würde ich an einer Wand abprallen, wenn sie sich anhaltend bemüht, höflich und perfekt zu sein. Aber das ändert sich mit der Zeit, sie wird spürbarer und berichtet, dass sie nun öfter widersprechen und ihre Meinung sagen kann.
Bei einer weiteren Klientin, Carola, taucht das Rumpelstilzchen ebenso auf, und zwar als ich sie frage, welche Gestalt der Nebel habe, der manchmal mehrere Tage in ihrem Kopf sei. Und sie erkennt im weiteren Prozess der Sitzung, dass Rumpelstilzchen einem kindlichen Ich von ihr gleicht, das vom Vater emotional gebraucht und verwendet wurde, sodass sie keinen eigenen Zugang mehr dazu hatte. Ihr eigentliches kindliches Selbst blieb versteckt. Der Vater würde es vereinnahmen, so wie Rumpelstilzchen es von der Müllerstocher fordert: Wenn sie es zur Welt bringt, gehört es ihm.
Mit der Zeit wird mir bewusst, dass die drei narzisstischen Missbraucher Müller, König und Rumpelstilzchen die Tochter als junge Frau dazu zwingen, ihr wahres, intuitives Selbst zu verbergen und immer wieder in ihren Dienst zu stellen.
Aber es gibt einen Ausweg! Die Tochter muss den missbrauchenden Anteil, das Rumpelstilzchen, erkennen, das an die Stelle ihrer selbstbewussten Begabung und Intuition getreten ist, sie muss es ausfindig machen, begreifen und benennen und dadurch verwandeln. Die Müllerstocher im Märchen schickt einen Boten aus, um Rumpelstilzchen zu finden und seinen Namen zu erfahren, denn dann würde sie frei sein von seiner Forderung nach ihrem ersten Kind. Und bei Marlene und Carola muss ein Prozess in Gang kommen, in dem sie sich von väterlichen Forderungen und Erwartungen lösen und sich selbst gehören können.
Im Märchen bleibt das Kind der Müllerstochter, das Rumpelstilzchen gefordert hatte, schließlich bei ihr, wo es hingehört. Wir atmen erleichtert auf, wenn die Müllerstochter mit ihrem Kind am Ende vereint ist. Und ich nehme dankbar wahr, wie Marlene und Carola sich von verinnerlichtem Erwartungsdruck befreien und mehr eins mit sich selbst werden.
Und das Rumpelstilzchen tut mir – und vielleicht auch euch – ein bisschen leid. Bei Carola verwandeln wir es in einen Ratgeber. „Der rumpelt, wenn ich mich überfordere, selbst missbrauche und zuviel hergebe!“ – lachend nehmen wir Abschied.