Lähmende Peinlichkeit und wie ich einen Ausweg fand

Ich biege um die Hausecke der Universität München, will auf den Eingang zugehen und halte inne. Ich blicke auf die vielen jungen StudentInnen, die sich in kleinen Gruppen vor allem um den sprudelnden Brunnen scharen. Ein reges Treiben, ein angenehmer, lebendiger Eindruck und dennoch halte ich inne, etwas lähmt mich. Ich hatte mich für einen Vortrag über Scham angemeldet, den ein Professor aus Kalifornien halten sollte.

Ich kann plötzlich keinen Schritt vorwärts gehen. Vereinnahmt von der Vorstellung, dass alle auf mich schauen würden, wenn ich mich als ältere Frau dem Eingang nähern würde, bremst mich etwas. Sie würden denken „was will die denn hier?“, mich abschätzig betrachten und bestenfalls ignorieren. „Du gehörst doch wohl nicht hierher!“ würden sie mir mit Blicken zu verstehen geben. Zu dieser scheinbar leichtlebigen Studentenwelt gehörte ich nicht dazu, ich konnte, so wie ich mich sah, nicht Teil des Bilds werden.

Ein paar Schritte weiter an einer Hausecke des großen Gebäudes fühle ich mich etwas sicherer und überlege. Nach Hause zu fahren, kam nicht infrage. Aber was soll ich tun?
Es geht, so mache ich mir immer mehr klar, um das Bild, das ich meine, vor den anderen abzugeben, das mich ausschließt und als ungenügend erscheinen lässt, ich sehe mich im Nachteil, im Unterstatus.
Da mir bewusst ist, dass das Ganze innerlich vorweggenommen, gefühlt unumstößlich aber ein innerer Film ist, frage ich mich, woher ich das kenne, dass jemand ablehnend auf mich schaut.

Gleichzeitig schäme ich mich vor mir selbst. Es kann doch nicht sein, dass ich so hilflos in dem Gefühl der Peinlichkeit gefangen bin. Endlich fällt mir meine Großmutter ein, von der manche gesagt hatten, dass sie kein Herz hatte. Nach ihrem Tod stellte man fest, dass es sich auf der rechten Brusthälfte befunden hatte. Bei ihr war alles streng geregelt, man musste leise sein und ihre Missbilligung ging durch alle Knochen. Noch schlimmer war es, wenn sie mich ins Kinderzimmer verbannte. Dann war ich allein auf diesem Planeten.

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Die Erinnerung lässt mich besser atmen, ich habe den Grund dafür gefunden, dass ich aus der Realität gefallen bin. Aber wie komme ich aus der inneren Lähmung heraus? Ich brauche einen anderen Blick auf mich, er solle liebevoll und annehmend sein. Dann würde ich mich besser fühlen.

Ja, doch, da gab es mal jemanden. Ich merke plötzlich, wie wichtig diese Erfahrung für mich gewesen war. Patrick war ein älterer Kollege, der mich freundlich unterstützt hatte und mir weiterhalf, wenn ich als Studentin mit den Anforderungen im Büro nicht zurechtkam. Ich liebte seinen Geruch von Zigarettenrauch und teurem After Shave. Würde es genügen, mich mit dem Gefühl von Wärme und bedingungsloser Zuwendung, die ich durch ihn damals erlebte, dem Eingang der Uni zu nähern? Würde der Switch in eine andere Verfassung, in das Gefühl der Verbundenheit mit mir selbst funktionieren?

Ich gehe ein paar Schritte auf den Brunnen zu und muss innerlich grinsen: wie absurd war doch die Vorstellung, dass die StudentInnen auf mich schauen würden! Sie sind mit sich selbst beschäftigt, warum sollen sie mich überhaupt bemerken oder gar Gedanken über mich machen? Ich war wie in einem anderen Film gewesen. Jetzt fühle ich mich leicht und frei. Niemand scheint mich zu beachten.

Der Vortrag des Professors über Scham ist dann nicht weiter spannend, er gibt einige Informationen und stellt wissenschaftliche Erkenntnisse vor, zum Beispiel, dass durch bildgebende Verfahren die Reduktion der Denkfähigkeit bei Scham nachgewiesen werden kann. Er empfiehlt, dass Therapeuten ihre eigene Scham wahrnehmen sollen, und dass man mit Menschen, die sich schämen, achtungs- und verständnisvoll umgehen soll.
Für mich hat sich die weite Reise des Professors aus Kalifornien auf jeden Fall – anders als erwartet – gelohnt. Ich versuche, mich weiter an den Geruch von Patricks Aftershave zu erinnern und fahre zufrieden nach Hause.

Heike, die Panikattacken und die Suche nach den Ursachen

Als Heike die Therapie beginnt, hat sie ein klares Ziel: sie will ihre Panikattacken loswerden oder wenigstens besser damit umgehen können.

Im Rückblick kommt mir der Therapieverlauf wie ein Krimi vor. Der Täter: unbekannt. Er schlägt aus dem Nichts zu und verursacht höchste Angstgefühle. Etwas Dunkles steigt dann von unten in Heike hoch, ihr Magen drückt, der Kehlkopf und der Brustkorb verengen sich, das Atmen fällt schwer, der Puls steigt und Verzweiflung kommt auf: nicht schon wieder! Todesangst flammt auf. Dieser Zustand kann ein paar Minuten oder ein paar Stunden anhalten.

Heike hat nach Hilfen gesucht, sie hat es bereits mit Kaba Extrakt und Tavor versucht, sie hat Bücher gelesen, Yoga gelernt und Atemübungen gemacht, nichts hat geholfen, ein Hörsturz kam dazu.
Wir gehen auf die Suche nach Hinweisen, was die Panik auslösen oder verursachen könnte. Und als würde man im Londoner Nebel immer mal den Blick auf eine Gestalt erhaschen, finden wir immer wieder mal kurz eine greifbare mögliche Ursache. Der Krankenhausaufenthalt der Mutter zum Beispiel, als Heike ein Kind war, das Gefühl alleingelassen und überfordert zu sein. „Keiner hat sich um mich gekümmert“, stellt sie fest, „die Aufmerksamkeit hat gefehlt.“

Heike hört Entspannungsmusik, versucht ihren Stress zu reduzieren, und gerade da schlägt die Panik wiederholt zu. Ich versuche es mit Anleitungen, wie Heike sich selbst besser wahrnehmen und sich besser um sich kümmern kann und sich selbst die Aufmerksamkeit gibt, die sie nach der Erkrankung der Mutter vermisst hat. Nach einer Inneren-Kind-Übung hat Heike zwei Tage lang Panik.

Heike spricht nun von ihrer Klaustrophobie, die in der Schulzeit begonnen hätte, von ihrer Angst vor Enge. Dabei fängt ihr Ohr an zu brummen, und sie erinnert sich, dass die Mutter manchmal explodiert sei und gebrüllt habe. Sie habe als Kind immer funktionieren müssen. Als Heike bei einem Konzert Panik bekommt, bringe ich ihr bei, in solchen Situationen positive Sätze, Entspannung, Atemübungen und Ablenkung einzusetzen.

Der Nebel lichtet sich ein wenig, als deutlicher wird, was die Auslöser sein können: plötzliche oder hämmernde laute Musik, das Gefühl der Enge und der Überforderung. Wegen der Angst vor Enge frage ich nach, wie ihre Geburt verlaufen sei. Heike wird die Mutter fragen.

Und wie verhext, taucht ein typischer Auslöser auf: Vor ihrem Haus treffen sich spät abends Jugendliche und hören laut Techno-Musik, Heike wacht mit Panik und Bedrohungsgefühlen auf. Was ihre negative Überzeugung in dem Moment sei? „Ich kann nichts machen“, sagt Heike, „und ich kann es nicht aushalten.“ Es fühle sich an, als gehe es um ihr Leben, als werde sie vernichtet. Sie fühle sich wie eingesperrt in einem engen Raum. Und wieder denke ich an ein traumatisches Geburtserlebnis.

Oder hat die Panik gar nichts mit Heikes Erfahrungen zu tun? Ich vermute auch an ein Transgenerationen-Trauma, eine Vererbung von traumatischen Erlebnissen durch die Eltern oder Großeltern. Was ihr noch zu plötzlichen, lauten Geräuschen einfalle? Heike wird jetzt schlecht. Sie erinnert sich an die Trillerpfeife der Turnlehrerin, die habe sie auch nicht ausgehalten.
Wir suchen weiter. Ob sie im Geburtskanal festgesteckt sei? Heike nickt, sie habe nachgefragt, man sei der Mutter schließlich auf den Bauch gesprungen und habe sie rausgedrückt. Ihr Gesicht hellt sich auf. Vermutlich hatte sie Todesangst, als sie im Geburtskanal feststeckte. Das könnte die Angst vor Enge erklären.

In der nächsten Sitzung versuchen wir, Heikes Daueranspannung zu lösen, und ich frage nochmal nach, ob jemand aus ihrer Familie im Krieg war und ob jemand erschossen wurde? Plötzlich wirkt Heike klar, sie schaut mich direkt an: „Nein, aber mein Vater hatte einen Schießstand auf dem Rummelplatz. Als meine Mutter mit mir schwanger war, sie war jeden Tag dort“. Niemand hat an das kleine Wesen im Bauch der Mutter gedacht. Wir nicken beide verstehend und atmen auf, wir haben den Täter anscheinend gefasst!

Und tatsächlich, fünf Jahre später begegne ich Heike zufällig, und sie erzählt mir, dass sie seitdem keine Panikattacken mehr gehabt habe.
Unglaublich und doch leicht nachzuvollziehen. Es ist wie in einem guten Krimi: man kommt nicht so leicht drauf, wie man das Rätsel lösen kann, und viele Vermutungen und Versuche scheinen zunächst ins Leere zu laufen. Und doch werden die Vermutungen konkreter, und es entsteht nach und nach ein Bild, das erlaubt, die richtigen Fragen zu stellen…

Verfluchte Weihnachtsplätzchen

Eine ehemalige Nachbarin hatte mich gefragt, ob sie mir etwas vorbeibringen könne, und so kurz vor Weihnachten nahm ich an, es handle sich um eine kleine Aufmerksamkeit, vielleicht sogar ihre leckeren Plätzchen, und freute mich.
Als sie dann mit einer weihnachtlich verzierten Schale mit schön gestalteten Plätzchen vor der Tür stand, verzog sie zunächst keine Miene, überreichte sie mir wortlos und fing dann an zu wettern: Sie werde niemals mehr zu Weihnachten backen! Das sei das letzte Mal! Damit sei jetzt Schluss! Sie hasse backen! Sie habe tagelang in der Küche gestanden, und dann werde es einfach aufgegessen, was so viel Mühe gemacht habe! Sie habe es verflucht, dies Weihnachtsbacken, damit sei jetzt ein für alle Mal Schluss!

Ich stand wie vom Donner gerührt da von diesem Schwall von Hass, sie hatte die Plätzchen bzw. das Backen verflucht? Ich war wie vom Blitz getroffen, und brachte gerade noch ein „Frohe Weihnachten“ heraus, bevor sie sich schnell umdrehte und ging.
In mir kochte es, etwas Heftiges war von außen in mich eingedrungen, und ich nahm mir vor, meine Familie damit zu verschonen.
Allerdings merkte man mir an meiner aggressiv getönten Ausstrahlung an, dass etwas geschehen war.
„Ich will nicht darüber reden,“ sagte ich kurz und lenkte mich mit Arbeit in der Küche ab.
Ich war wütend. Was sollte das, fragte ich mich, die freundliche Geste einerseits und die Hasstirade andererseits? Wie konnte sie mir das zumuten! Ich wollte diese Plätzchen auf keinen Fall essen! Ich wollte sie weghaben, als könnte ich mich damit auch von dem Hass befreien.
Auf Nachfragen meiner Familie musste ich später doch Farbe bekennen und erzählte, wie die Übergabe der Plätzchen verlaufen war.
„Ich werde sie verschenken! Essen werde ich sie nicht!“ sagte ich entschlossen und immer noch wütend. Damit war meine Familie nicht einverstanden. Das gehöre sich nicht, das könne ich nicht machen. Hm. Ok. Was dann? Ich fühlte mich ausgebremst und ratlos. Zum Wegwerfen waren sie zu schade, das kam nicht infrage. Wie wurde ich meine Wut los?
Ich lenkte mich erst einmal weiter ab, kochte Tee und telefonierte mit Freunden. Dabei ließ das Gefühl von Überflutung und innerer Abwehr langsam weiter nach.
Wie kam ich innerlich zur Ruhe und wieder in Frieden mit mir und der alten Nachbarin?
Nach einer Weile fiel mir ein, dass die Nachbarin länger krank gewesen war und unter Luftnot litt. Sie hatte kein gutes Jahr gehabt. Hm. Ok. Ich war mit meinen Gedanken bei ihr und sie tat mir nun auch ein bisschen leid.
Langsam erwärmte sich mein Herz wieder ein wenig.
Ich konnte langsam nachvollziehen, dass dieser Schwall von Aggression aus ihr herausgebrochen war. Sie hatte sich mit dem Backen überfordert, weil sie die Erwartung der Nachbarn nicht enttäuschen wollte, die ihre besonders guten Plätzchen seit Jahren schätzten. Sie hatte einfach nicht Nein sagen können.Das kannte ich. Von mir. Gut sogar. In mir war nun etwas weich wie ein Marshmallow.


Es war plötzlich leicht für mich zu erkennen, dass ich mich auch manchmal überforderte.
Bevor ich Nein sage, nehme ich immer wieder mal aus Gutmütigkeit etwas auf mich, möchte  anderen einen Gefallen tun – und ärgere ich mich hinterher, wenn es mir zu viel war. Ich verstand sie jetzt, und es gab dadurch wieder einen Horizont von Freundlichkeit mit ihr.
Dennoch, die Aggression der Nachbarin war schwer auszuhalten und eine heftige Zumutung gewesen, und ich spürte noch, wie sie mich getroffen hatte. Aber es beschäftigte mich jetzt weniger.
 


Kristin und die Befreiung von einem vernichtenden Seelenanteil

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„Ich bin nirgends zu Hause“, fängt Kristin heute an und wirkt dabei niedergeschlagen. Sie falle immer wieder in schwarze Löcher, diesmal wohl auch deshalb, weil sie ihre Arbeit in der Zahnarztpraxis wegen Konflikten mit der Chefin gekündigt habe. Seitdem könne sie sich zu nichts mehr aufraffen, egal was sie sich vornehme. Es sei wie ein schwarzer Schatten, der ihre Vorhaben in einem trägen Rumwurschteln versanden lasse. Sie schaut mich ratlos an.

Ein ‚schwarzer Schatten‘, damit kann ich etwas anfangen.
Wo der denn sei, und wie sie ihn wahrnehme?
Kristin zeigt in Richtung Bauch. Sie zögert, hm, es sei eher ein schwarzer Strich.
Ich entscheide mich, mit einer Methode weiterzumachen, die sich in der Traumatherapie als Arbeit mit inneren negativen Anteilen (sogenannten „Introjekten“) bewährt hat.

Auf meine Frage, wo sie den schwarzen Strich besser aushalten könne, deutet sie auf eine etwa 5 m entfernte Stelle auf dem Boden. Dabei entspannt sie sich etwas. „Er kann auch auf einem anderen Planeten sein“, wende ich ein, „in der Welt der Vorstellung ist alles möglich“.
Für Kristin passt es so, sie „müsse ihn im Auge behalten“.
Jetzt wird es spannend, denn sie soll den Strich nun befragen.

Kristin fällt es leicht, eine Antwort zu erhalten, als sie den Strich fragt, wann er in ihr Leben kam. „Drei Monate“, sagt Kristin, „ich war drei Monate“, und sie umklammert gleichzeitig mit einer Hand ihren Hals, sie scheint leicht zuzudrücken, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Ich weiß aus früheren Stunden, dass sie ein ungewolltes Kind, und ihre Mutter sehr jung und ledig war.

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 „Fragen Sie den Strich, was er erreichen will“, schlage ich nach einer Weile vor.
„Ich kann nur leben, wenn du nicht lebst“, sagt er. Wir verstehen das beide sofort, und es braucht keine Worte. „Das ist meine Mutter“, sagt Kristin schließlich tonlos.

Meine Erklärung, warum nach 40 Jahren dieses Bedrohungsgefühl so lebhaft wiedererlebt wird, und Kristin in einen depressiven Zustand versetzen kann, versuche ich kurz zu halten:
„Dieses Erleben ist im emotionalen Gedächtnis zeitlos gespeichert“, sage ich, „sagen Sie ihm, wie alt Sie jetzt sind, und dass sie, die Mutter, leben kann und Sie selbst auch.“
Das Gefühl von Kristin, dass ihre Mutter sie wohl manchmal weggewünscht hatte, ist nun deutlich spürbar, und es wirkt sehr nachvollziehbar.

Da man negative innere Anteile nicht einfach wegschicken oder zerstören, sondern nur umwandeln kann, frage ich Kristin, wie sie den schwarzen Strich verändern möchte. Als symbolische Gestalt ihrer Vernichtungsangst kann er nicht so bleiben.

Was sie ändern will, weiß Kristin sofort, und obwohl wir das beide nicht verstehen, ist klar: der Strich soll einen Knoten haben. Seine Aufgabe soll nun sein, sie auf ihre inneren Knoten aufmerksam zu machen, wenn sie dabei ist, sie zu übersehen und sie nicht zu beachten. Er könne ruhig schräg vor ihr mitlaufen, im selben Abstand wie bisher. Sie lacht. Ich sehe Kristin an, dass ihre Lebenskraft zurückgekehrt ist und fühle mich mit ihr froh und erleichtert.

Als nächstes wird es darum gehen herauszufinden, was der Trigger für ihren depressiven Zustand gewesen sein könnte. Kristin ist jetzt noch zu beeindruckt davon, dass das bedrohliche Gefühl bzw.  der schwarze Strich immer dagewesen ist und sie vermieden habe, das wahrzunehmen.
Es kann ihr nicht mehr gefährlich werden, denn der schwarze Strich hat jetzt eine Knoten. Das müssen wir nicht verstehen, es wirkt auch so.

Hautstörungen: Wenn man aus etwas raus will und nicht kann

Wenn uns notwendige Veränderungen nicht gelingen, kann es zu Hautstörungen kommen. Unsere Haut wandelt und erneuert sich ständig, bei einer Schuppenflechte passiert das in einem rasenden Tempo. Und das Jucken bei Ekzemen signalisiert: kratz‘ so lange, bis die Stelle offen ist, ich kann nicht anders, so als müsste etwas raus, und dennoch tritt meist keine Erleichterung ein. Etwas ist nicht zum Aushalten und man möchte aus einer Situation raus, kann es aber nicht.

Irina lebt in einer schwierigen Partnerschaft und leidet unter dauerhaften Belastungen, sie steht ständig unter Druck. Es fällt ihr schwer zu äußern, wenn sie etwas stört, sie will nicht zur Last fallen und lieber selbst hilfreich sein. Immer wieder hat sie das Gefühl, allein, in einer Situation gefangen und wehrlos zu sein. Bei Irina gab es in der Kindheit und Jugend zahlreiche unerträgliche medizinische Behandlungen und Eingriffe, die sie wehrlos ertragen musste, die nicht verarbeitet werden konnten und getriggert werden können.

Es gibt viele Einflüsse auf den Ausbruch eines Ekzems, Ernährung, Klima, Licht usw., aber entscheidend sind die Belastungen, die sensible Menschen unter Druck setzen und sie hilflos machen. Den Zusammenhang zwischen Hautzustand und seelischen Faktoren hat man inzwischen nachgewiesen: seelischer Druck und Konflikte führen zu einer Störung der Immunzellen in der Haut, sodass verstärkt Entzündungssubstanzen ausgeschüttet werden.

Stress verursacht viele Beschwerden und Krankheiten, warum reagieren manche mit Hautsymptomen und andere nicht? Die Veranlagung spielt eine Rolle. Aber in der Therapie geht es darum herauszufinden, welche spezifischen Konflikte mit Hautstörungen zu tun haben.
Bei Irina wurden immer wieder Situationen aus der Kindheit, die mit heftigen Emotionen verbunden waren, reaktiviert, also unbewusst ausgelöst. Zum Beispiel, wenn sie sich schlecht behandelt fühlte oder das Thema Klinik oder Op in ihrem nahen Umfeld auftauchte. Sie hatte sowohl in ihrer Partnerschaft als auch im Job den dringenden Wunsch nach Veränderung, hatte aber das Gefühl, nichts verändern zu können. Und das Aushalten hatte irgendwann eine Grenze erreicht.

Irina kam zur Therapie wegen depressiven Verstimmungen, aber sie erkannte immer mehr, dass es einen Zusammenhang zwischen Problemsituationen und ihrer Hautreaktion gab. Ihre zentralen Fragen entfalteten sich nach und nach: „Was brauche ich (und nicht immer nur die anderen)?“ „Wie komme ich aus dem Druck raus?“, „Was kann ich tun, um die Situation zu verändern?“ Sie nahm endlich wahr, wann sie sich zurückstellte und enttäuscht zurückzog. Sie fühlte sich häufig alleingelassen und gefangen, so als hätte sie keine Wahl. „Selbstwirksamkeit“, ein recht neuer Begriff in der Psychotherapie, war ihr eher fremd.

Irina hörte immer häufiger auf, Überforderung und Druck auszuhalten und den „AUSDRUCK“ ihrer Haut als Signal zu verstehen für die Notwendigkeit, etwas zu verändern, etwas das sie einengte und plagte.  

Lena, die Unsicherheit und die Burg als Schutz

„Immer diese Unsicherheit!“ Damit beginnt Lena heute die Stunde. „Diese Gedanken: Ist das richtig?  Darf ich das überhaupt entscheiden? Das nervt mich!“

Ich kenne diese Seite von Lena noch nicht und bin etwas erstaunt. Sie hat einen dominanten Vater, dem sie kaum etwas entgegensetzen kann. Ob sie dieser Unsicherheit ein Symbol zuordnen könne?

„Der Kuschelhund, der liegt einfach so da.“ Lena nimmt ihn hoch und legt ihn vor sich auf den Boden. „Der ist völlig ohne Energie,“ stellt sie fest.

„Und was macht ihn so energielos?“ Das schlechte Gewissen. Lena legt ein oranges Kissen gegenüber vom Hund auf den Boden. „Jetzt hat der Hund gar keine eigene Energie mehr.“  

Ich schlage ihr vor, das Kissen wegzulegen. „Eigentlich ist der Grund mein Vater. Dazu fällt mir Gagamel ein, der böse Kerl, der die Schlümpfe bedroht.“ Ich muss lachen.

Lena nimmt den Hund zu sich auf den Schoß.

„Sie könnten ihm sagen, dass er zu ihnen gehört,“ schlage ich vor. „Gut, ok – aber der denkt, das bleibt dann nicht so .“ Nach einer Weile kann Lena ihm versprechen, dass sie ab jetzt immer auf ihn hören wird.

„Wir sind eine Räuberbande,“ sagt Lena plötzlich lachend, „wir gehören zusammen! – Wir sind zu mehreren in einer Burg… und wenn Gagamel kommt, dann passen alle auf und machen das Tor nicht auf oder werfen was runter…“

Ob jetzt alles gut und sie geschützt sei? Lena nickt und freut sich. Aber das überzeugt mich irgendwie nicht.   

„Sind da nicht noch zwei andere Anteile?“ gebe ich zu Bedenken, „der Mütterliche und die Gutmütige?“ Lena stimmt erstaunt zu. „Und sind die vielleicht in der Küche?“ „Ah, stimmt, die kochen etwas, wollen ihm was davon geben und machen ihm dann heimlich die Tür auf! Da muss einer aufpassen, denen muss einer sagen, dass sie den nicht reinlassen dürfen! Der würde drinnen wieder riesengroß werden, draußen ist er klein!“
Wie kann sie sich absichern?

Es gibt e. Alarmanlage – und die beiden sehen das auch ein, dass der ihr Mitgefühl verwirkt hat!“

In der nächsten Sitzung erzählt Lena, dass sie sich mehrmals an die Burg erinnert und einmal auch Krebse über die Mauer hinunter geworfen hat. Sie habe damit den Vater ganz gut von sich fernhalten können. Der Gedanke „ich muss ihn mal wieder besuchen“ hat sich damit nicht mehr durchsetzen können und sie habe sich dabei gut gefühlt.

Eva und die Mütterlichkeit

Eine gute Mutter zu sein ist auch für mich manchmal ein innerer Konfliktstoff, da der Anspruch einerseits eine vertraute Seite von mir ist und andererseits steht er im Widerspruch zu meinem Wunsch nach Freiraum und Selbstverwirklichung, sodass es sich manchmal wie ein Riss in meinem Inneren anfühlt. Meine Patientin Eva erlebt einen solchen inneren Konflikt immer wieder, heute anhand der Verteilung der Räume in ihrem Zuhause.
„Wenn mein Mann im Homeoffice ist, fühle ich mich unfrei, so als würde er mich kontrollieren,“ eröffnet sie heute die Sitzung. Das habe ich schon öfter von Frauen gehört, die Mütter sind, sich um den Haushalt kümmern und berufstätig sind. Eva hat einen anstrengenden Job.
 
Ihr fällt auf, dass die Tochter und ihr Mann ein Zimmer für sich haben, während sie in einer Ecke im Schlafzimmer einen kleinen Schreibtisch und einen Sessel für sich hat. Manchmal zieht sie sich in den Keller zurück, bügelt und legt Wäsche zusammen, um eine zeitlang für sich zu sein.

Auf mein Nachfragen hin bemerkt Eva einen Druck in der Herzgegend.
Wir arbeiten eine Weile damit und mit ihren Gefühlen und den Gedanken dazu, bis sie sich zu der Überzeugung verdichten, dass sie sich keinen Raum nehmen darf.
Eva hat plötzlich eine Idee: sie könnte das Wohnzimmer für sich zu beanspruchen.
„Mein Mann müsste anklopfen, aber die Kinder nicht.“
Ich finde die Idee richtig gut. Wie sie denn das Zimmer gestalten würde?
„Vogelwild!“ sagt Eva strahlend, „nach meinen eigenen Bedürfnissen!“.

Dann fällt ihr ein, dass die zweite Tochter, die seit Kurzem in einer nahegelegenen Stadt lebt, möchte, dass zu Hause „alles so bleibt, wie es ist“. Evas Gesichtsausdruck verändert sich jetzt entsprechend dem innerlich zusammengefallenen Kartenhaus in Richtung Resignation.
Ich halte dagegen: „Ich kenne diesen Wunsch von Kindern, die das Elternhaus verlassen haben, sie möchten immer wieder ins vertraute Nest zurückkehren, aber die Tochter verändert sich und Sie als Mutter auch!“  Eva nickt und findet die Situation jetzt unfair.
„Das klingt nach Motherism“, sage ich spontan, ohne nachzudenken, einfach in der Vorstellung, dass Eva ein Ideal von Mütterlichkeit verinnerlicht hat, ein Muster von Erwartungen an diese Rolle, die sie selbst zu stark einschränkt.
Meine Mutter hat sich „nur aufgeopfert“, sagt Eva.

Später finde ich per Internetrecherche heraus, dass es zwei Bedeutungen von Motherism gibt: die Diskriminierung von Nur-Müttern und die Wertschätzung von Mütterlichkeit als liebevolle Fürsorge für andere und die Umwelt. Da lag ich wohl falsch.
Mir ging es um die Erwartungen an „die gute Mutter“, die sich einschränkt, weil sie das Ideal verinnerlicht hat, meist ohne es zu merken. Als Forschungsthema ist „die Mutter als weibliche Person“, Anspruch und Realität, so gut wie nicht vorhanden.

Es existiert ein gesellschaftliches Rollenbild, das besonders von berufstätigen Müttern kaum mehr zu erfüllen ist, aber innerlich noch wirkt. Nach aktuellen Forschungsansätzen besteht Muttersein vor allem in einem grundsätzlichen, umfassenden Verantwortungsgefühl für den Nachwuchs, was die körperliche Sicherheit, die seelische Zufriedenheit und die gesamte Entwicklung betrifft.
Immer wieder sitzen Mütter vor mir mit schlechtem Gewissen, Schuld- und Versagensgefühlen, weil ein jugendlicher Sohn oder die Tochter sich nicht gemäß den Normalitätsanforderungen entwickelt. Der Partner bleibt dabei seltsamerweise außen vor.

Und viele Frauen haben in den Häusern und Wohnungen kein eigenes Zimmer, sie sorgen für die anderen. Eva sieht die Situation jetzt anders. „Ich werde das Wohnzimmer umräumen, wie ich will!“
Damit geht sie lachend zur Tür raus. Was für ein mutiger Entschluss. Und gleichzeitig denke ich: Wieso auch nicht?

Ninas Einsamkeit, das Jammern und das Problem mit der Zukunft

Nina kann sich oft nicht entscheiden, vor allem, wenn es um körperliche Beschwerden geht, dann jammert sie, nach der richtigen Lösung oder Behandlung suchend, und geht ihren Freundinnen damit auf die Nerven. Kein Wunder, dass sie sich zurückziehen. Heute will Nina von mir wissen, wie sie zu eigenen Entscheidungen kommt, und wie sie es schafft, mit dem Jammern aufzuhören.

Ich packe zunächst meine verhaltenstherapeutischen “Tipps und Tricks” aus:
sie kann ihr Problem aufschreiben, Für und Wider bewerten, sie kann konkret um eine Meinung oder Unterstützung nachfragen, sie kann recherchieren und dann versuchen wahrzunehmen, was ihr Gefühl und ihre Intuition sagen. Ihre Reaktion ist für mich verblüffend: „Eigentlich suche ich eine Mutter“, sagt Nina. Sie hat ihre Mutter früh verloren.

„Sie vermitteln vermutlich, dass Sie sich nicht anlehnen, sondern selbst entscheiden wollen, sodass die Ratschläge der Freundinnen ins Leere laufen, und beide Seiten deshalb frustriert sind“, gebe ich zu Bedenken. Nina lacht kurz und stimmt mir zu.

Dann fällt mir noch etwas ein: „Sie können vielleicht benennen, wie Sie sich fühlen, zum Beispiel, dass Sie gerade verzweifelt sind,“ schlage ich, weiter nach Lösungen suchend, vor. „Sie sind doch dann manchmal verzweifelt?“
Plötzlich kommt Nina in Fahrt, und sie erzählt, wie es in der DDR war, wo sie aufgewachsen ist. Es sei viel über Krankheiten geredet worden, wenn sich die Familie traf oder Nachbarinnen sich unterhielten. Das habe niemanden gestört.
Und jetzt wird Nina etwas klar: „Wir waren getragen von einer gemeinsamen Zukunft, jeder hatte an seinem Platz Anteil an der Gemeinschaft, egal ob es die Putzfrau war, der Handwerker oder der Chef, wir wurden so geprägt, dass wir den Kommunismus aufbauen, etwas Gutes, das in der Zukunft lag, und dafür war die Gemeinschaft wichtig. Damals hätte man mich kurz nervig gefunden, aber mich nicht gemieden, wenn ich gejammert hätte, man hätte gesagt ‚die jammert halt‘, aber ich hätte dazugehört. Ich bin schon lange im Westen. Aber irgendwie hat man mir die Zukunft genommen.“

Endlich verstehe ich den Hintergrund für Ninas frustrierende Suche nach Verbundenheit und Unterstützung, und dass ihr Jammern von dem Gefühl der Aussichtslosigkeit genährt wird, das zu finden, was sie kannte. Und von dem Widerstand gegen die allgemeine Erwartung, in ihrem Leben grundsätzlich selbstständig entscheiden zu müssen und zu wissen, was sie will. Und ich verstehe ihre Fassungslosigkeit, dass andere sich überfordert abwenden, wenn ihre Haltlosigkeit offenbar wird.
Wie ratlos müssen die Freundinnen sein, wenn sie Nina sagen, sie soll doch froh sein, sie habe Arbeit, eine schöne Wohnung und könne doch jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind, machen, was sie will. Für Nina fehlt etwas.

Nina hat etwas gesucht, was sie von früher kennt. Ihr Gefühl von einem Defizit im Miteinander erscheint mir realistisch, Einsamkeit ist ein zentrales Thema in der aktuellen Gesellschaft. Ich werde ihr helfen, eine Gemeinschaft zu finden, die menschliche Verbundenheit und gegenseitige Unterstützung einschließt. Und Nina hat schon eine Idee.

http://www.abstrakte-Kunst.de – Bild von Christina Lück

Einsamkeit. Was wissen wir darüber?

Es gibt sie bereits, die Minister of Loneliness, die Einsamkeitsminister, und zwar in England und in Japan. Bei uns wird über Einsamkeit abstrakt gesprochen, in Büchern und Statistiken, aber von meinen Patient*innen höre ich Sätze wie „ich war am Wochenende wieder allein, und es ging mir schlecht“. Kein Wunder, als Single auf dem Land. Man passt dann nicht in sein Umfeld, der Kontaktmangel quält einen und macht hilflos. Wer einsam ist, benennt es nicht.
Nach meiner Erfahrung  – es war für mich ein Neubeginn an einem fremden Ort – entsteht eine Negativspirale: ich hatte wenig Kontakt und fühlte mich einsam, je einsamer ich mich fühlte, umso weniger konnte ich auf andere zugehen. Es war wie verhext, das Gefühl von einem inneren Loch wurde größer, das konnte sowieso niemand füllen. Alleinsein ist generell ein Gefühl, das tief gehen kann. Es triggert eine „nie ganz erlöschende Kinderangst“ (Sigmund Freud).

Wenn jemand sich als einsam beschreiben würde, wäre er stigmatisiert, umgeben von einer Aura von Versagen und dem Verdacht einer undefinierbaren psychischen Störung ausgesetzt, womöglich bekäme man es mit einer überbordenden Bedürftigkeit zu tun.
Als ich vor vielen Jahren neu hergezogen war und bei Gelegenheit kundtat, dass ich neue Freunde suchte, wirkte das auf andere so, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Direkt darf man dieses Thema also nicht angehen.

Was hat die Wissenschaft bisher über Einsamkeit herausgefunden?
„Einsamkeit ist ein vernachlässigtes Problem“ titelt Frank Padberg von der LMU München. Am meisten leiden Personen um die 20 und um die 80 Jahre unter Einsamkeit. Und wer dieses widrige Gefühl länger aushalten muss, hat ein größeres Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten und Depressionen. Und umgekehrt, wer daran erkrankt, fühlt sich eher einsam.

Wovon hängt es ab, ob jemand sich einsam fühlt? Padberg und sein Team haben herausgefunden:  Jemand fühlt sich einsam, wenn er sich von anderen Menschen leichter bedroht fühlt und entsprechende Signale verstärkt wahrnimmt. Oder wenn er meint, er sei selbst schuld und etwas sei mit ihm nicht in Ordnung. Und wenn er glaubt, er könne seinen Zustand nicht beeinflussen oder ändern. Häufig liegt es an einem Mangel an Bindung oder Übung in der Kindheit.

Die Politikerin Diana Kinnert spricht in ihrem Buch „Die neue Einsamkeit“ für die jüngere Generation, wenn sie feststellt: wir sind alle gut vernetzt, aber die wirkliche Verbindlichkeit fehlt. Das durchzieht nach meiner Erfahrung die ganze Gesellschaft: der Mangel an Verbindlichkeit.

Und wie geht es denen, die in einer Partnerschaft leben? 13 % der Frauen und 15 % der Männer in Paarbeziehungen bezeichnen sich als einsam. Spielt Corona eine Rolle? Mit Home-Office, Kinder beaufsichtigen, Angst vor Jobverlust… Nein. Es gibt eher deutliche Zusammenhänge mit Misshandlung in der Kindheit, auch dem Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Man kann emotional oder/und sozial isoliert sein, und jede*r reagiert unterschiedlich stark darauf.

Entscheidend ist das Gefühl der Einsamkeit und nicht die objektive Situation. Wer sich mit etwas, jemandem oder etwas Größerem verbunden fühlt, und wenn es ein Therapeut ist, kann dem Einsamkeitsgefühl entkommen, auch wenn er in seinem Umfeld allein ist. Aber das sollte sich natürlich durch eine Therapie ändern, wenigstens ein bisschen, und es muss passen, zu dem, was man sich wirklich wünscht.

Martina, die Fahrstuhlangst und der Ausstieg aus der Enge

Wir haben am Anfang beide angenommen, dass wir in kürzester Zeit ihre Fahrstuhlangst erfolgreich behandeln könnten. Martina wohnt in einem Haus mit vielen Stockwerken, und der Fahrstuhl fällt manchmal aus. Dann muss sie zähneknirschend, egal wie viele Einkaufstaschen sie in der Hand hat, zum 6. Stock hinauflaufen.

Aber weit gefehlt, wir haben zwar am Anfang ein EMDR gemacht, eine Methode, die fast immer hilft, blockierende Überzeugungen zu überwinden, aber Martina konnte den Fahrstuhl nach wie vor nicht benutzen, und andere Themen schoben sich in den Vordergrund.

Nachdem nun – viele Sitzungen später – der Fahrstuhl erneut das Thema ist, und Martina mehr innere Selbständigkeit und Sicherheit erreicht hat, staune ich, wie ihre Angst sich jetzt entlarven lässt und der Hintergrund verständlich wird:

Martina schließt die Augen. Es gelingt ihr ganz gut, sich zu entspannen. Dann stellt sie sich vor, dass sie vor dem Fahrstuhl steht, und bekommt ein Gefühl der Enge am Hals, so als ob jemand sie würgen würde. Dieser Jemand drückt sie in den Fahrstuhl hinein, sie wehrt sich nicht. Es ist dort stickig und eng, der Schatten steht neben ihr, und sie weiß, dass er über sie bestimmt, seine Ausstrahlung ist eindeutig.

„Wenn ich wegrücke, rückt er nach“, stellt Martina fest. „Ich fühle mich nicht bedroht, aber mir ist mulmig. Die Person neben mir bestimmt, was ich mache, und er hat jetzt den Knopf in den 4. Stock gedrückt… aber ich möchte raus!“ Das klingt hilflos.
Ich frage einfach mal nach, in welchem Stockwerk sie denn aussteigen möchte.
„Ich möchte in den 3. Stock aber ich kann nichts tun!“  
„Sie können doch auf Stopp drücken“, behaupte ich spontan, „das geht!“

Martina drückt auf „Stopp“. Sie rückt von der Person weg, und er kommt zu ihrem Erstaunen nicht nach. Sie steigt im 3. Stock aus. „Wenn er mir nachkommt, stelle ich mich ganz nah vor seine Nase und sage: „Mit mir nicht mehr!“ Sie atmet auf.
Nach einer Weile öffnet Martina die Augen und schaut mich fragend an.

„War das mein Vater?“, fragt sie unsicher. Ihr Vater hatte ein Geschäft und die ganze Familie war eingespannt gewesen.
„Hat es sich am Anfang so angefühlt, dieser Schatten, das Dunkle und Kontrollierende?“ frage ich zurück.
„Ja, und dann hat mein Ex-Mann das Bestimmen und Kontrollieren übernommen“.
 
Ob sie jetzt mit dem Fahrstuhl fahren könne? will Martina wissen. Und bevor ich antworten kann, sagt sie: „Ach egal! Ich bin in den 3. Stock gefahren, wo ich hinwollte, und ich habe mich aus der Enge befreit. Ich lasse mich nicht mehr von außen bestimmen.“ Ihre braunen Augen leuchten ein bisschen.
Als nächstes möchte sie probieren, mit der S-Bahn in die Stadt zu fahren. Vielleicht werde sie ihre Familie  besuchen, was lange nicht ging. Aber erst, wenn sie das möchte.