Wo steckt das Rumpelstilzchen?

Ihr habt lange nichts von mir gelesen, was daran lag, dass ich meinte, meine Beiträge würden sich inhaltlich wiederholen, und ich hätte nichts Neues zu berichten. Aber jetzt möchte euch davon erzählen, wie Rumpelstilzchen bei zwei Patientinnen auftauchte und mich ins Überlegen brachte, wie sich das Märchen in ihrer Lebenssituation widerspiegelte.
Es waren schon oft Klientinnen bei mir, deren Geschichte der von Schneewittchen (eifersüchtige Mutter), Aschenputtel (kleingemacht von eifersüchtigen Schwestern), Rapunzel (Befreiung von mütterlicher Vereinnahmung) oder Dornröschen (Erstarrtes wiedererwecken) ähnelte – aber das Märchen vom Rumpelstilzchen kam in meinen bisherigen Therapiesitzungen scheinbar nicht vor.

Wofür steht Rumpelstilzchen, was symbolisiert es? Was ist der Sinn der Forderung nach dem ersten Kind der Müllerstochter?  Warum zerreißt es sich, als es entdeckt und sein Name erraten wird? Und warum heiratet die Müllerstochter am Ende den König, der sie in eine üble Lage gebracht hatte? Diese Fragen hatte ich mir nie zuvor gestellt…

Bis Marlene wegen eines OP-Traumas und anhaltenden Schmerzen zu mir kam, eine junge Frau Mitte Zwanzig. Während wir an dem arbeiteten, was sie beim Ablauf der Op, insbesondere bei der Einleitung der Narkose, traumatisiert hatte, merkte ich, dass Marlene „einfror“, dass ihr Körper erstarrte, und sie kaum zu atmen schien. Zu meinem Erstaunen reagierte Marlene auf meine Rückmeldung mit den Worten „Das kenne ich gar nicht anders“, und sie meinte nicht nur während ihrer Flashbacks, wenn etwas sie an die Op erinnerte, was häufig geschah. Ausgelöst wurden sie durch einen ähnlichen, künstlichen Geruch oder wenn ihr etwas zu nahe kam, körperlich oder seelisch, sodass ihre Selbstbestimmung, das Gefühl, über sich verfügen und selbst entscheiden zu können, in Gefahr geriet.

Ob sie das Erstarren auch schon von früher kenne? Marlene nickt. Sie bemerke es gar nicht mehr. In der Schule habe sie immer sehr aufgepasst, dass sie nichts falsch mache, und zu Hause, dass sie sich gut benehme. Das sei ihr immer sehr wichtig gewesen. Wenn sie mal laut gewesen sei, habe man sie zurechtgewiesen, was bei den Geschwistern nicht passiert sei. Sie sei immer „wie eine Prinzessin“ gewesen, tadellos und aufmerksam. Außerdem habe ihr Vater – sicher gut gemeint – sie stark unter Leistungsdruck gesetzt, manchmal sei sie vor ihm weggelaufen.

Ich frage ein bisschen weiter und Marlene erzählt, dass sie der Liebling von ihrem Großvater und wie stolz er auf sie gewesen sei. Dazu fällt mir der Müller im Märchen von Rumpelstilzchen ein. Es beginnt mit einem stolzen Vater, der mit der Tochter vor dem König angibt – was ich als Kind schlimm und bedrohlich fand. Ich mochte das Märchen nicht. Die arme Müllerstochter gerät durch ihren Vater in eine ausweglos erscheinende Gefangenschaft. Sie muss nun, eingesperrt in einer Scheune, dem König, dem Übervater, auf Gedeih und Verderb etwas liefern, was er unbedingt haben will, um reicher zu sein. Ich konnte ihr, der Müllerstochter und auch Marlene, diese absolute Überforderung nachfühlen, wie vermutlich viele Töchter.

Heute kann ich das einordnen: die Tochter wird vom Vater oder Großvater narzisstisch verwendet, er schmückt sich mit ihr und wertet sich damit auf, während die Tochter stets großartig sein muss.
Wie sie wirklich ist, muss sie in sich verschließen, sie muss Unmögliches erreichen, Stroh zu Gold spinnen, wie die Tochter im Märchen, während ihr wahres Wesen und ihre echten Bedürfnisse unerkannt und unerfüllt bleiben. Sie spielen einfach keine Rolle.

Die unter Druck stehende Tochter ist innerlich in einer Falle, sie muss stets glänzen und der Erwartung des „Übervaters“, des Königs, der immer noch mehr will, unbedingt Genüge leisten. Sie ist in diesen übertriebenen, ihr fremden Erwartungen und Forderungen gefangen. Sie muss etwas von sich hergeben, zunächst dem Rumpelstilzchen ihre goldene Kette und ihren Ring, um kurzfristig der Bedrohung zu entkommen. Schließlich winkt beim dritten Mal ein überaus wertvoller Lohn: die Heirat mit dem König, der Aufstieg zur Königin.

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Als Kind fühlte ich den Schrecken der Müllerstochter intensiv mit. Es wäre ihr Ende gewesen, wenn Rumpelstilzchen nicht erschienen wäre.
Es übernimmt die unmögliche Aufgabe, welch ein Glück! Wenn es nur nicht beim dritten Mal ihr erstes Kind fordern würde, ihr Herz, ihr Ein und Alles! Sie lässt sich darauf ein, um der Gefangenschaft zu entkommen, sie liefert dem König das Gewünschte, das Gold, aber ihr Kind, Teil ihres ureigenstes Wesens, ihre Spontaneität, ihr innerstes Gut, wird sie Rumpelstilzchen dafür geben müssen. Sie hat keine Wahl.

Marlene erkennt etwas von sich in dem Märchen wieder. So wie Rumpelstilzchen sich verbirgt, namenlos bleiben muss und sich nach etwas Lebendigem sehnt, so halte sie sich stets zurück, füge sich den Anforderungen und sei meist angespannt. Sie zeige sich nicht, vor allem nicht in ihrem Leid.
„Ich nehme meine Gefühle wahr, aber ich drücke sie nicht aus“, sagt Marlene.
Für mich fühlt es sich mit Marlene manchmal so an, als würde ich an einer Wand abprallen, wenn sie sich anhaltend bemüht, höflich und perfekt zu sein. Aber das ändert sich mit der Zeit, sie wird spürbarer und berichtet, dass sie nun öfter widersprechen und ihre Meinung sagen kann.

Bei einer weiteren Klientin, Carola, taucht das Rumpelstilzchen ebenso auf, und zwar als ich sie frage, welche Gestalt der Nebel habe, der manchmal mehrere Tage in ihrem Kopf sei. Und sie erkennt im weiteren Prozess der Sitzung, dass Rumpelstilzchen einem kindlichen Ich von ihr gleicht, das vom Vater emotional gebraucht und verwendet wurde, sodass sie keinen eigenen Zugang mehr dazu hatte. Ihr eigentliches kindliches Selbst blieb versteckt. Der Vater würde es vereinnahmen, so wie Rumpelstilzchen es von der Müllerstocher fordert: Wenn sie es zur Welt bringt, gehört es ihm.

Mit der Zeit wird mir bewusst, dass die drei narzisstischen Missbraucher Müller, König und Rumpelstilzchen die Tochter als junge Frau dazu zwingen, ihr wahres, intuitives Selbst zu verbergen und immer wieder in ihren Dienst zu stellen.
Aber es gibt einen Ausweg! Die Tochter muss den missbrauchenden Anteil, das Rumpelstilzchen, erkennen, das an die Stelle ihrer selbstbewussten Begabung und Intuition getreten ist, sie muss es ausfindig machen, begreifen und benennen und dadurch verwandeln. Die Müllerstocher im Märchen schickt einen Boten aus, um Rumpelstilzchen zu finden und seinen Namen zu erfahren, denn dann würde sie frei sein von seiner Forderung nach ihrem ersten Kind. Und bei Marlene und Carola muss ein Prozess in Gang kommen, in dem sie sich von väterlichen Forderungen und Erwartungen lösen und sich selbst gehören können.

Im Märchen bleibt das Kind der Müllerstochter, das Rumpelstilzchen gefordert hatte, schließlich bei ihr, wo es hingehört. Wir atmen erleichtert auf, wenn die Müllerstochter mit ihrem Kind am Ende vereint ist. Und ich nehme dankbar wahr, wie Marlene und Carola sich von verinnerlichtem Erwartungsdruck befreien und mehr eins mit sich selbst werden.
Und das Rumpelstilzchen tut mir – und vielleicht auch euch – ein bisschen leid. Bei Carola verwandeln wir es in einen Ratgeber. „Der rumpelt, wenn ich mich überfordere, selbst missbrauche und zuviel hergebe!“ – lachend nehmen wir Abschied.

Komplizierte Trauer

Katharina hat vor 1 Jahr ihren Sohn verloren, 2 Tage hat man im Krankenhaus noch um sein Leben gerungen, der Todestag jährt sich in Kürze. Es geht auf und ab mit ihren Gefühlen und ihrer Lebenskraft, mal ist das Leben für sie sinnlos und der Verlust des Sohnes kaum zu ertragen, und dann wieder kann sie sich mal einen oder zwei Tage mit FreundInnen treffen und Freude in der Natur empfinden. Manche Tage erlebt Katharina heftige Wut, dass ihr Sohn sie verlassen hat. Immer wieder ist für sie das Leben trostlos und leer. So war es auch die letzten 2 Wochen, und niedergedrückt und traurig sitzt Katharina nun vor mir. Sie habe keine Perspektive, alles sei aussichtslos. „Alles ist ein Kampf“, sagt sie und wiederholt es ein paar Mal, während sie unter Tränen über ihren Alltag spricht.


„Gerade ist es mal wieder schlimm“, sagt sie, „in der Arbeit kann ich funktionieren, zum Glück, da schalte ich irgendwie um, aber zu Hause ist alles sinnlos. Es fehlt der Halt, und alles kostet so viel Kraft. Und da ist niemand sonst (Katharina hat Eltern, die nicht gut mitfühlen können). Obwohl ich Freunde und Freundinnen habe, aber die fragen nicht mehr nach, wie es mir geht, so als müsste mein Trauer mal langsam vorbei sein.“ Mir fällt mein Leitfaden für dem Umgang mit Gefühlen ein, in dem es darum geht, woher man heftige Gefühle kennt und was damals – und damit auch heute – geholfen hätte.
Ich schreibe zunächst Katharinas Gedanken und Gefühle auf, die sie mir gerade geschildert hat und jetzt nochmal ergänzt.
Es entsteht ein deutliches, gefühltes Bild in mir, als sie jetzt sagt: „da ist kein Gegenüber für meine Liebe“ (seit der Sohn gegangen ist). Das kommt mir richtig schlimm vor, das ist schwer zu ertragen.
Ich vermute, dass dies Gefühl „alt“ ist, aus der Kindheit vertraut. Da war niemand ihr Gegenüber, jemand, der auf sie geschaut hat, der mit ihr innerlich verbunden war, bei dem sie sich geborgen gefühlt hätte.

Ob ihr eine Situation einfalle, in der sie sich als Kind oder Jugendliche so verloren und alleingelassen gefühlt hat?
„Als ich mit 12 zu meiner Mutter gezogen bin und mein Vater enttäuscht war, dass ich mich nicht für ihn entschieden habe. Was hat er denn erwartet? Ich wohnte bei meiner Mutter, die arbeiten gehen musste. Sie war mit sich selbst beschäftigt, da war kein richtiger Halt. Ich habe nachts geweint und meinen Vater vermisst. Wenn ich bei ihm zu Besuch war, hat er sich mehr um die Freundin gekümmert.“ Wir bleiben eine Weile bei den Gefühlen von damals, dann frage ich weiter. Was damals ihr Bedürfnis gewesen wäre? „Halt und Liebe“, sagt Katharina ohne lange überlegen zu müssen.
„Wenn Sie sich vorstellen können, dass dies Bedürfnis nach Halt und Liebe irgendwie erfüllt worden wäre, wenn es auch eine Fantasie ist, oder wenn sie das vielleicht mal erlebt haben, dann gibt es das wenigstens in ihrer Vorstellung und kann helfen“, sage ich und hoffe, dass Katharina sich an etwas erinnert, was dem Loch und der Leere, die sie immer wieder empfindet, entgegenwirkt. Ich muss nicht lange warten, Katharina fällt nach einem kurzen Moment ihr Großvater ein. Sie sei 2 Jahre zwischen 9 und 11 bei den Großeltern auf dem Hof gewesen, dort habe sie vor allem von ihrem Opa Wärme gespürt, eine gleichbleibende Herzenswärme, und die Oma habe sich um alles gekümmert, sie sei durch die ganze Struktur auf dem Hof irgendwie ein Halt gewesen. Immer wieder kommen Katharina die Tränen.
Damit das Gefühl von Geborgenheit nicht untergeht, so als hätte es das nie gegeben, versuchen wir, diese schönen Gefühle in ihrem Körper zu „verankern“. – Dazu frage ich Katharina nach und nach, was sie mit den Großeltern auf dem Hof, dem Gefühl von Halt und Liebe assoziiert: Wo im Körper sie das schöne Gefühl am deutlichsten spüre? Welche Farbe sie damit verbinden könne? Ob ihr dazu Töne oder Geräusche einfallen? Ein Geruch? Vielleicht auch Worte oder ein Satz?

Im Gesicht von Katharina kann ich sehen, wie sich ihre Anspannung nach und nach löst. Das Gefühl sei im Brustraum, es sei rot, die Kuckucksuhr ticke im Wohnzimmer der Großeltern, es rieche wie auf dem Hof damals – Katharina ist nun innerlich dort, und ich lasse ihr Zeit, in das Gefühl von damals ganz einzutauchen. Für mich riecht es gerade nach Essen, Bohnerwachs, Heu und altem Holz… Zum Ende der Stunde geht es ihr besser. Es gibt für sie nun wieder mehr als das Aushalten von Leere und Aussichtslosigkeit, es gibt auch die Erfahrung von Liebe und Halt.
Diese Erfahrungen sind unvergesslich, weil wir – unser Gehirn und unser Körper – sie zusammen mit der Erinnerung an den Ort und dem Raum gespeichert haben. Und weil wir so, mit dieser Erinnerung, immer mal ein wenig auftanken und glauben können, dass nichts jemals ganz weg ist. Und weil es der Überzeugung entgegenwirkt, dass es an uns liegt, was uns durch andere Menschen geschieht.



LeserInnen mögen sich nun fragen, was an Katharinas Trauer kompliziert ist, wie ich es im Titel genannt habe. Zum einen, dass bei ihr frühere schwere Erfahrungen von allein und verlassen sein durch den Verlust des Sohnes, der ihr sehr nahe stand, getriggert werden, und zum anderen, weil sich Wut und Verzweiflung in die Trauer mischen, dass eine geliebte Person ihr das antut (wie der Vater damals), sie alleinzulassen, so als sei sie unwichtig.
Wie ein Lichtstrahl fällt die Erfahrung mit den Großeltern, wo sie wichtig, gehalten und geliebt war, in die schwarz gefärbte Überzeugung, unwichtig zu sein – weil Liebe bleibt.

Julia, das Selbstwertgefühl und das (nicht) ernst genommen werden

„Ich habe mich letzte Woche so geärgert über meine Schwiegereltern!“ So beginnt Julia die heutige Stunde. Sie habe immerhin erreicht, dass ihr Mann und nicht sie mit seinen Eltern über den Kritikpunkt geredet habe, aber das habe nichts gebracht. Die Schwiegermutter schalte bei Bitten zum Umgang mit dem 5-jährigen Kind auf Durchzug, mit dem Schwiegervater komme es zu fruchtlosen Streitgesprächen. Die Beiden hätten einfach keine Einsicht und machten so weiter, wie sie es gewohnt seien. „Sollen wir unser Kind nicht mehr zu ihnen lassen?“ fragt Julia ratlos.

Das hört sich nach einem Gefühl der Ohnmacht an, nach Ärger, der nagt und wurmt und sich immer neu entfacht. Da ich die Erfahrung gemacht habe, dass hilfloser Ärger mit dem Selbstwertgefühl oder der eigenen verborgenen Unsicherheit zu tun hat, bitte ich Julia, den Satz zu ergänzen:
„Ich bin es nicht wert, dass…“

Sofort kommt die Ergänzung, „…dass ich ernst genommen werde!“
Auch beim Partner erlebe sie das immer wieder, sie bitte ihn um etwas, und es sei so, als hätte sie nichts gesagt, er mache weiter wie gewohnt. Wie sich das in ihr anfühle, in ihrem „Brustbauchraum?“ (ich mag dieses Wort).
„Wie ein Loch“, sagt Julia. Das habe einen Rand.

Jetzt tritt der Moment ein, der oft in der Therapie vor einer Veränderung entsteht, wenn eine innere gefühlte Wahrheit bewusst wird und ausgedrückt werden kann. Wo ist die Lösung?
Was tun? Julia will das unangenehme Loch ja nicht haben, sie will es loswerden. Sie zu fragen, mit was sie es füllen möchte, käme mir zu schnell und zu einfach vor, wir haben es noch nicht verstanden, das Loch. Und an dieser Stelle Selbstsicherheitstraining einzusetzen, ist aus meiner Erfahrung nicht erfolgversprechend,  das Problem und die Lösung liegen bei Julia offensichtlich tiefer.

Wir setzen das Loch in der Vorstellung auf einen dritten Stuhl. Es wirkt unsicher und nervös,  sagt Julia, es will nicht gesehen werden. „So ist es bei mir ganz oft,“ sagt Julia, „ich will mich lieber nicht zeigen und bleibe still, obwohl ich etwas sagen möchte, das ärgert mich manchmal.“ Auch im Beruf halte sie sich oft unnötigerweise zurück.

Wie so oft, ist die Schlüsselfrage jetzt die nach dem Bedürfnis. Was braucht das Loch? Und Julias Antwort fällt anders aus, als erwartet.
„Dass ihm jemand, die gute Mutter, sagt: ‚Du bist ok und richtig, wie du bist!‘“ Julia schaut zum Stuhl und auf das Loch, und die Atmosphäre verändert sich, sie fühlt sich dichter an und wohltuend. „Dann füllt sich das Loch auf, wie mit einer Art von Gel, weich und doch fest, und dann prallen die blöden Sätze der Schwiegermutter, ihr Unverständnis und ihre Ausreden daran ab.“ Wir freuen uns…

„Und jetzt?“ fragt Julia, und ich bin schon am Überlegen.
„Können Sie das Loch, das keins mehr ist, wieder in sich reinnehmen?“
Das fühle sich im Bauch geborgen und sicher an. Endlich. „Ich darf mich einfach entscheiden, auch wenn es falsch ist, das ist ok… und ich mache einfach selbst die Tür zu, wenn mein Mann das mal wieder vergisst, so dass er es merkt… ich kann handeln, anstatt so viel zu denken und zu reden.“ Bisher habe sie doch heimlich gezweifelt, ob sie nicht zu streng und die Schwiegereltern im Recht seien…

Wir freuen uns beide über die Veränderung, Julia, weil sie sich nicht mehr hilflos fühlt sondern sich zutraut, etwas bewirken zu können (was wir im Psycho-Sprech „Selbstwirksamkeitsüberzeugung“ nennen), und ich, weil es gelungen ist, das Bauchgefühl zu verändern, das Körpergefühl. Ihre Stimme wird in Zukunft wahrscheinlich anders, überzeugender klingen, wenn sie etwas erreichen will. Übrigens: auch Algorithmen können aus der Stimme einer Person heraushören, wie selbstsicher oder sensibel und bei welchen Themen jemand unsicher ist.

Ein weiterer Kommentar zum Thema Gewalt gegen Frauen

Gewalt gegen Frauen zu entschuldigen mit Armut und Frust, ist nicht nur
billig, es zeigt auch, dass der Schreiber hier ein ähnliches Frauenbild
hat wie die o.g. Vergewaltiger in den Slums von Nairobi: dass Frauen
nämlich Besitz der Männer sind, an denen mann mal eben seinen Frust
auslassen kann. Sind wir Punching-Bälle für frustrierte Männer??

Gewalt gegen Frauen ist immer und überall unentschuldbar!!

Und noch etwas: Dass elende Lebensverhältnisse automatisch zu Gewalt,
Kriminalität, Vergewaltigung führen müssen, ist kein Naturgesetz. Es
gibt und gab Gesellschaften, in denen das trotz des Elends nicht der
Fall ist, wie z.B. die Juden in Osteuropa bis zum 2. Weltkrieg, bei
denen es Verfolgung und einiges an Armut gab, aber von Bandenbildung und
massenhafter Frauenvergewaltigung hat man dort nie gehört.


Gisela Framhein

Kommentar zu „In kenianischen Slums lernen Mädchen sich gegen Gewalt zu wehren“

Hallo Kerstin Freitag,
es ist nicht nur Machismo, der Männer dazu bringt, Frauen zu vergewaltigen. Es sind auch nicht nur die „inneren anerzogenen Überzeugungen der Mädchen“, die sie daran hindern sich zu wehren.
Ich war während meiner Zeit in Nairobi viele Male in dem Slum Kibera und habe  auch einen Weltspiegelbeitrag über ältere Frauen (50 plus) gedreht, die in Kursen Selbstverteidigung lernen und üben. Denn nicht nur junge Frauen werden in Kibera zu Opfern. Ich habe damals auch einen Mann interviewt, der eine 65jährige Frau vergewaltigt hat. Warum? „Aus Rache an der Gemeinschaft. Weil das Leben im Slum ihm ein anständiges Leben unmöglich macht“, sagte er mir. Warum gerade diese Frau? Reiner Zufall, sagte er. Er sei betrunken gewesen, und an „Irgendjemand“ hätte  er seinen Frust eben rauslassen müssen. ,
In Kibera leben Hunderttausende in ärmlichsten Verhältnissen. Kein fließendes Wasser, keine privaten Toiletten. Wer in der Nacht mal  muss, muss hunderte Meter gehen  bis zur nächsten öffentlichen Toilette.  Durch dunkle Gassen, die nächste Polizeistation fast ein Kilometer entfernt. Da traut sich nachts auch kaum ein Mann raus.
Ich denke, so lange es solche Verhältnisse gibt, wird sich nicht viel ändern. Selbstverteidigungs-Kurse können  nur ein Anfang sein. Auch in Deutschland. Nur muss man/frau dafür nicht  nach der Bundesministerin für Familie rufen. Dazu können  auch Eltern, Lehrer, Freunde und Freundinnen motivieren.

Beste Grüße,

Peter Schreiber

„In kenianischen Slums lernen Mädchen, sich gegen Gewalt zu wehren. Mit Erfolg…“

Der Artikel in DER ZEIT vom 27.4.23 hat mich sehr beeindruckt und mir deutlich gemacht, wie notwendig es ist, weltweit mehr für den Schutz von Mädchen zu tun.
„An der Ayany-Schule in Kibera wird, wie bald an sämtlichen Schulen Kenias, den Mädchen beigebracht, in der Not zuzuschlagen“, zu brüllen, sich zu wehren.

Jede vierte Frau, vor allem wenn sie jung ist, wird im Armenviertel von Nairobi pro Jahr Opfer einer Vergewaltigung. Nachdem die Mädchen die Uyumaa-Africa-Kurse in der Schule absolviert haben, reduziert sich diese Zahl um 50%. Weil sie lernen, laut zu werden, nicht mehr den Mund zu halten und leise zu sein, bei sich die Schuld zu suchen, sich klein zu machen, sich zurückzunehmen, sondern zu kämpfen und zu gewinnen.
Der Erfolg der Kurse ist mehrfach wissenschaftlich beforscht und bestätigt worden, z. B. von der Stanford-Universität.

Opfer von Gewalt zu werden liegt an der körperlichen Überlegenheit des Mannes? Falsch, es sind die inneren anerzogenen Überzeugungen der Mädchen. Es verschlimmert die  Lage, wenn man sich wehrt? Falsch, Selbstbewusstsein und Grenzen setzen bringt Erfolg. Wenn man es denn kann, das laut werden und – so banal das klingt – Widerstand zu leisten, zu widersprechen, laut und deutlich.

Was tun gegen die „Bad-Bay“-Kultur, in der eine Vergewaltigung ein Ausweis von Männlichkeit ist? In Kursen mit Jungs hat man in Nairobis Schulen angefangen, sie zum Reden zu bringen, über die Gewalt des Vaters und ihre eigenen Probleme.

Die Ausbildung der Trainerinnen dauert einen Monat und beinhaltet Atemtechnik, Rollenspiele, Selbstverteidigung, Stimmübungen, Strafrecht und ein bisschen Psychologie und Pädagogik.

Gibt es etwas in Deutschland, das Mädchen hilft, sich gegen Gewalt zu wehren? Bringt ihnen jemand bei, einen Kniestoß richtig zu platzieren, laut zu werden und selbstbewusst zu sein, nicht nur in der Theorie? Eine Nachfrage der ZEIT beim Bundesministerium für Familie usw. ergab: nichts. Es wird Zeit.

Alinas Depression, der Schrei und die innere Kraft

Wir wissen nicht, was das ist, der innere Antrieb, wir sind damit geboren, er ist einfach da, mal mehr, mal weniger, wir genießen es, wenn wir Elan haben, und wenn er länger sehr schwach ist, uns lahmlegt und die Freude nimmt, ohne dass wir wissen warum, ohne dass wir das ändern können, dann ist das schwer auszuhalten. Und wenn wir zum Arzt oder Therapeuten gehen, teilt er uns mit, dass wir eine Depression haben. Dann bietet er uns normalerweise ein Antidepressivum an, das oft bei schweren Fällen hilft und ansonsten zu 85 % so gut wie ein Placebo.

Bei Alina halfen die üblichen Antidepressiva bisher kaum oder gar nicht, sie hatte einige bereits ausprobiert. Es gab verstehbare Gründe, warum diese Depressionsphase schwerer war als die vorherigen, aber dass ich das verstand, half Alina nicht und führte uns nicht weiter.

In den Therapiesitzungen hatten wir darüber gesprochen, dass Alina sich keine Schwäche erlaubt und dass sie sich für traumatische Erlebnisse immer selbst die Schuld zuschreibt. Das war fest in ihr verankert. Was half ihr?

In der jetzigen schweren Phase kann sie sich immer mal wieder aufraffen, etwas aufzuräumen oder eine Freundin zu treffen, aber arbeiten kann sie seit ein paar Wochen nicht mehr. Sich zusammenreißen? Das war ihr nicht möglich. Aus dem Bauchladen meiner Methoden und meines therapeutischen Wissens hatte ich schon Vieles versucht, aber es ging ihr einfach nicht besser. Ich war froh, dass sie jede Woche zu unserer Sitzung kam.
Was mir diesmal einfiel, kam mir ganz spontan in den Sinn.

Als Alina heute vor mir sitzt, voller unausgesprochener Selbstvorwürfe und Hoffnungslosigkeit, ohne dass sie mir die Gelegenheit gibt, mit ihr wie sonst manchmal über irgendeinen Unsinn zu lachen, frage ich sie nach ihrem körperlichen Befinden hier und jetzt. Und um etwas in Bewegung zu bringen, fordere ich sie auf, sich auf die Spannungen in ihrem Körper zu fokussieren und die Augen dabei ein paar Mal hin und her zu bewegen. Während den Wiederholungen wandert nun die empfundene Spannung nach oben und setzt sich schließlich im Halsbereich fest.

Sie wolle diesen Kloß runterschlucken, sagt Alina. Oder halb runterschlucken und halb nach oben befördern. Als Alina davon spricht und wir beide nicht wissen, wie sie den Kloß loswird, kommt mir die Idee, mit ihr rauszugehen – gleich hinter dem Haus befindet sich eine Wiese am Waldrand –  und sie aufzufordern, das alles, was sie blockiert und bedrückt, rauszuschreien.

Alina ist zunächst nicht begeistert von meinem Vorschlag, lehnt ihn aber auch nicht ab, also stehe ich auf und gehe voraus. Etwas widerwillig folgt sie mir nach draußen. Wir stehen leicht fröstelnd auf dem nassem Gras und wenden uns den Bäumen zu. Alina findet die Situation komisch. Sie schaut sich um. Nein, niemand werde sich gestört fühlen, versichere ich ihr, die Nachbarn sind relativ weit weg und um diese Zeit meistens nicht zu Hause. Ich versuche, sie zu ermutigen und lasse ihr Zeit.

Sie soll mal klein anfangen, schlage ich vor, mit einem kleinen leisen Schrei, der könne helfen,  inneren Druck rauszulassen, vielleicht auch das Gefühl zu dem Ganzen, was sie gerade durchmache.  „Es reicht“, sagt Alina leise und schaut zu den Bäumen gegenüber. Ich nicke. Das war ein Anfang.
Und wieder, etwas lauter, sagt Alina „Es reicht!“ Das haben die stillen, dunklen Bäume gehört.
„Das war schon ganz gut“, sage ich. Das dritte und vierte Mal wird Alina lauter und dann schreit sie es richtig heraus, „es reicht!“. Das war beeindruckend und hallt in meinen Ohren nach. Alina wirkt etwas erschöpft. Wir finden beide, dass es genug sei. Die Sitzung ist vermutlich fast zu Ende, und wir kehren ins warme Praxiszimmer zurück.

Alina hat jetzt zittrige Beine, sagt sie auf meine Nachfrage, wie kurz vor dem Einknicken, wie wenn man den Berg herunter geht und merkt, dass man nicht mehr kann. Das Gefühl habe sie schon öfter gehabt, auch vor langer Zeit. Ich weiß, dass ich sie in ein paar Minuten gehen lassen muss, die Zeit ist fast abgelaufen, ich muss einen guten Abschluss finden.
Ich frage sie, was sie sich jetzt wünscht.
„Dass mich jemand festhält“, sagt sie zaghaft. „Und dass ich die Kraft, die ja offensichtlich doch da ist, wieder mehr spüren kann“. Darüber freue ich mich, „Kraft, die offensichtlich doch da ist…“. Alina steht auf und geht zur Tür. Ich bleibe zurück mit dem Eindruck von einem kleinen Lichtblick.

Ella, der Nebel und das geerbte Kriegstrauma

Wenn meine PatientInnen über stark belastende Erlebnisse sprechen, noch ohne sie einordnen und verstehen zu können, dabei sich selbst nicht mehr spüren oder „müde“ werden, besonders in den Augen, sehe ich häufig verschwommen und bekomme einen inneren Zugang zur Tiefe des Bedrohlichen, des Traumas, über das gerade hinweggesprochen wird – dann sage ich oft „ich sehe Sie gerade wie im Nebel“. Dann versuchen wir zu erspüren, welche Erfahrung sich darin verbirgt, und manchmal sind es nicht die eigenen.

Heute in der Stunde mit Ella ging es um einen angstmachenden Nebel, und als ich später nach Literatur über transgenerationale Traumaweitergabe suchte, fand ich den Titel „Nebelkinder. Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte.“ (s. Lit.hinweis unten).

Ella hat schon viele Stunden bei mir an ihrem Gefühl gearbeitet, sich immer wieder überfordert und überrollt zu fühlen. Sehr bestimmt stellt sie heute fest: „ich lasse mich nicht mehr überrollen!“. Wie lange habe sie daran arbeiten müssen. Sie habe sich Fotos angeschaut aus der Zeit, als ihre Tochter klein war und erschrocken festgestellt, dass sie fast durchgehend depressiv und traurig ausgesehen habe. Jetzt gehe es ihr viel besser, auch mit ihren Gelenkschmerzen.

Und immer wieder sei ihr das Tor vor ihr inneres Auge gekommen, das in der Sitzung der letzten Woche im Zusammenhang mit einer Imagination (einer therapeutischen Technik mit symbolischen Bildern) Thema gewesen war. Sie sehe es auch jetzt vor sich. Sie könne nicht hindurchgehen, unter keinen Umständen! Das Tor und dies Gefühl lasse sie aber nicht los. Sie wolle nicht hindurchgehen, auf keinen Fall! Da sei Nebel. Der sei furchtbar gruselig! Der würde sie – hier sucht Ella nach dem passenden Wort – umhauen.

Ich frage nach möglichen Helfern und Unterstützern, die ihr diesen Schritt durch das Tor ermöglichen könnten. „Nein“, sagt Ella, „Aber ich könnte in einer schwebenden Kugel sein, in der ich beweglich bin, das geht. Dann schwebe ich durch das Tor in den Raum dahinter“, sagt sie und schaut mich an. Sie fühle sich jetzt erstarrt. Am ganzen Körper total angespannt. Eingefroren. Das Grauen dieses Nebels schwappt jetzt zu mit herüber.

Um Ella aus diesem körperlichen Trauma-Zustand rauszuholen, soll sie ihre Augen ein paar Mal schnell hin- und herbewegen. Nach meiner Erfahrung löst das körperliche Traumaverspannungen sehr rasch und effektiv.

So auch jetzt bei Ella, sie ist wieder handlungsfähig. „Es ist weg“, sagt sie etwas ungläubig. „Jetzt geht der Nebel zur Seite“, sagt sie, „Er ist jetzt rechts und links von mir, und vor mir ist ein Weg, weiter hinten ist es hell!“.
Spätestens jetzt bin ich mir sicher, dass es nicht Ellas traumatische Erfahrung ist, die sich hier in der Imagination darstellt.
Bevor ich etwas Weiterführendes sagen kann, platzt es aus ihr heraus: „Ich sehe meinen Vater!“ und nach einer Pause: „Was hat das denn mit dem zu tun?!“. „Entweder ist es Ihre Angst vor dem Vater oder es ist seine Angst“, sage ich.

„Es ist die Angst meines Vaters, ganz sicher! Er war kriegstraumatisiert, er war Jahrgang 1933, er musste für die Eltern, die tagelang im Bunker verharrten, Essen besorgen, er hat oft über den Krieg gesprochen, wir wollten das oft nicht, er hat sich mit Alkohol betäubt und später viel über seine Kriegserlebnisse aufgeschrieben.“ Ella wirkt jetzt sehr bewegt. Wiederholt stellt sie erfreut  und mit Tränen in den Augen fest, dass der Weg vor ihr hell ist, und dass das ihr eigener Weg ist. Dass der Nebel sich hinter ihr auflöst und sogar das Tor nicht mehr sichtbar sei. Sie strahlt mich an.

Um Ella darin zu bestätigen, dass sie als Kind das Trauma des Vaters atmosphärisch aufgenommen hat, erzähle ich ihr eine eigene Erfahrung mit einer traumatischen Angst meines Großvaters, der in beiden Weltkriegen verschüttet gewesen war, und wie ich als Kind in der Wohnung meiner Großeltern eine diffuse Angst gespürt hatte.
„Ein falscher Schritt, und ich bin tot“ hatte sich als irrwitzige Überzeugung in mir verankert, die ich mühsam aus dem Unbewussten ins Bewusstsein holen musste. Die als Angst gegenüber Autoritätspersonen, die mich unbewusst an meinen Großvater erinnerten, manchmal – mir unerklärlich – als Angst aufgetaucht war und dann, nach der Zuordnung zu den Kriegserlebnissen meines Großvaters, verschwand.

Als Ella nach der Sitzung zur Tür geht, sind wir beide noch bewegt, verwundert und vor allem dankbar für diesen entscheidenden neuen Schritt und das Bild vom hellen, freien Weg.  

Bei Interesse kann man über Kriegskinder, Kriegsenkel und „German Angst“ bei Sabine Bode mehr zu dem Thema nachlesen. Zum Begriff „Transgenerationale Traumaweitergabe“: Unverarbeitete seelische Traumata können sich auf die Nachkommen übertragen. Als „Kriegsenkel“ bezeichnet man Kinder von Kriegskindern des Zweiten Weltkriegs. Der Begriff beschreibt Menschen, die durch die von ihren Eltern erlittenen, unverarbeiteten seelischen Traumata indirekt traumatisiert wurden. Der Begriff wird für die Jahrgänge zwischen 1960 und 1975 verwendet. Die traumatischen Erfahrungen der Eltern und Großeltern sind für die Kinder atmosphärisch spürbar, ohne dass sie auf konkrete eigene Erfahrungen zurückgeführt werden können. Inzwischen gibt es zahlreiche naturwissenschaftliche, psychotherapeutische und sozialpsychologische Forschungsergebnisse dazu. Wie genau die Traumata weitergegeben, quasi „vererbt“ werden, ist noch nicht wissenschaftlich geklärt.

Weitere Literatur:

Joachim Süss, Michael Schneider (Hrsg.): Nebelkinder. Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte. Europa, Berlin, München, Wien 2015 Hartmut Radebold, Werner Bohleber und Jürgen Zinnecker: Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. Juventa, Weinheim 2008 Bettina Alberti: Seelische Trümmer: Geboren in den 50er und 60er-Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas. Kösel, München 2010 Marianne Rauwald (Hrsg.): Vererbte Wunden. Transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen. Beltz, Weinheim, Basel 2013

Lähmende Peinlichkeit und wie ich einen Ausweg fand

Ich biege um die Hausecke der Universität München, will auf den Eingang zugehen und halte inne. Ich blicke auf die vielen jungen StudentInnen, die sich in kleinen Gruppen vor allem um den sprudelnden Brunnen scharen. Ein reges Treiben, ein angenehmer, lebendiger Eindruck und dennoch halte ich inne, etwas lähmt mich. Ich hatte mich für einen Vortrag über Scham angemeldet, den ein Professor aus Kalifornien halten sollte.

Ich kann plötzlich keinen Schritt vorwärts gehen. Vereinnahmt von der Vorstellung, dass alle auf mich schauen würden, wenn ich mich als ältere Frau dem Eingang nähern würde, bremst mich etwas. Sie würden denken „was will die denn hier?“, mich abschätzig betrachten und bestenfalls ignorieren. „Du gehörst doch wohl nicht hierher!“ würden sie mir mit Blicken zu verstehen geben. Zu dieser scheinbar leichtlebigen Studentenwelt gehörte ich nicht dazu, ich konnte, so wie ich mich sah, nicht Teil des Bilds werden.

Ein paar Schritte weiter an einer Hausecke des großen Gebäudes fühle ich mich etwas sicherer und überlege. Nach Hause zu fahren, kam nicht infrage. Aber was soll ich tun?
Es geht, so mache ich mir immer mehr klar, um das Bild, das ich meine, vor den anderen abzugeben, das mich ausschließt und als ungenügend erscheinen lässt, ich sehe mich im Nachteil, im Unterstatus.
Da mir bewusst ist, dass das Ganze innerlich vorweggenommen, gefühlt unumstößlich aber ein innerer Film ist, frage ich mich, woher ich das kenne, dass jemand ablehnend auf mich schaut.

Gleichzeitig schäme ich mich vor mir selbst. Es kann doch nicht sein, dass ich so hilflos in dem Gefühl der Peinlichkeit gefangen bin. Endlich fällt mir meine Großmutter ein, von der manche gesagt hatten, dass sie kein Herz hatte. Nach ihrem Tod stellte man fest, dass es sich auf der rechten Brusthälfte befunden hatte. Bei ihr war alles streng geregelt, man musste leise sein und ihre Missbilligung ging durch alle Knochen. Noch schlimmer war es, wenn sie mich ins Kinderzimmer verbannte. Dann war ich allein auf diesem Planeten.

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Die Erinnerung lässt mich besser atmen, ich habe den Grund dafür gefunden, dass ich aus der Realität gefallen bin. Aber wie komme ich aus der inneren Lähmung heraus? Ich brauche einen anderen Blick auf mich, er solle liebevoll und annehmend sein. Dann würde ich mich besser fühlen.

Ja, doch, da gab es mal jemanden. Ich merke plötzlich, wie wichtig diese Erfahrung für mich gewesen war. Patrick war ein älterer Kollege, der mich freundlich unterstützt hatte und mir weiterhalf, wenn ich als Studentin mit den Anforderungen im Büro nicht zurechtkam. Ich liebte seinen Geruch von Zigarettenrauch und teurem After Shave. Würde es genügen, mich mit dem Gefühl von Wärme und bedingungsloser Zuwendung, die ich durch ihn damals erlebte, dem Eingang der Uni zu nähern? Würde der Switch in eine andere Verfassung, in das Gefühl der Verbundenheit mit mir selbst funktionieren?

Ich gehe ein paar Schritte auf den Brunnen zu und muss innerlich grinsen: wie absurd war doch die Vorstellung, dass die StudentInnen auf mich schauen würden! Sie sind mit sich selbst beschäftigt, warum sollen sie mich überhaupt bemerken oder gar Gedanken über mich machen? Ich war wie in einem anderen Film gewesen. Jetzt fühle ich mich leicht und frei. Niemand scheint mich zu beachten.

Der Vortrag des Professors über Scham ist dann nicht weiter spannend, er gibt einige Informationen und stellt wissenschaftliche Erkenntnisse vor, zum Beispiel, dass durch bildgebende Verfahren die Reduktion der Denkfähigkeit bei Scham nachgewiesen werden kann. Er empfiehlt, dass Therapeuten ihre eigene Scham wahrnehmen sollen, und dass man mit Menschen, die sich schämen, achtungs- und verständnisvoll umgehen soll.
Für mich hat sich die weite Reise des Professors aus Kalifornien auf jeden Fall – anders als erwartet – gelohnt. Ich versuche, mich weiter an den Geruch von Patricks Aftershave zu erinnern und fahre zufrieden nach Hause.

Heike, die Panikattacken und die Suche nach den Ursachen

Als Heike die Therapie beginnt, hat sie ein klares Ziel: sie will ihre Panikattacken loswerden oder wenigstens besser damit umgehen können.

Im Rückblick kommt mir der Therapieverlauf wie ein Krimi vor. Der Täter: unbekannt. Er schlägt aus dem Nichts zu und verursacht höchste Angstgefühle. Etwas Dunkles steigt dann von unten in Heike hoch, ihr Magen drückt, der Kehlkopf und der Brustkorb verengen sich, das Atmen fällt schwer, der Puls steigt und Verzweiflung kommt auf: nicht schon wieder! Todesangst flammt auf. Dieser Zustand kann ein paar Minuten oder ein paar Stunden anhalten.

Heike hat nach Hilfen gesucht, sie hat es bereits mit Kaba Extrakt und Tavor versucht, sie hat Bücher gelesen, Yoga gelernt und Atemübungen gemacht, nichts hat geholfen, ein Hörsturz kam dazu.
Wir gehen auf die Suche nach Hinweisen, was die Panik auslösen oder verursachen könnte. Und als würde man im Londoner Nebel immer mal den Blick auf eine Gestalt erhaschen, finden wir immer wieder mal kurz eine greifbare mögliche Ursache. Der Krankenhausaufenthalt der Mutter zum Beispiel, als Heike ein Kind war, das Gefühl alleingelassen und überfordert zu sein. „Keiner hat sich um mich gekümmert“, stellt sie fest, „die Aufmerksamkeit hat gefehlt.“

Heike hört Entspannungsmusik, versucht ihren Stress zu reduzieren, und gerade da schlägt die Panik wiederholt zu. Ich versuche es mit Anleitungen, wie Heike sich selbst besser wahrnehmen und sich besser um sich kümmern kann und sich selbst die Aufmerksamkeit gibt, die sie nach der Erkrankung der Mutter vermisst hat. Nach einer Inneren-Kind-Übung hat Heike zwei Tage lang Panik.

Heike spricht nun von ihrer Klaustrophobie, die in der Schulzeit begonnen hätte, von ihrer Angst vor Enge. Dabei fängt ihr Ohr an zu brummen, und sie erinnert sich, dass die Mutter manchmal explodiert sei und gebrüllt habe. Sie habe als Kind immer funktionieren müssen. Als Heike bei einem Konzert Panik bekommt, bringe ich ihr bei, in solchen Situationen positive Sätze, Entspannung, Atemübungen und Ablenkung einzusetzen.

Der Nebel lichtet sich ein wenig, als deutlicher wird, was die Auslöser sein können: plötzliche oder hämmernde laute Musik, das Gefühl der Enge und der Überforderung. Wegen der Angst vor Enge frage ich nach, wie ihre Geburt verlaufen sei. Heike wird die Mutter fragen.

Und wie verhext, taucht ein typischer Auslöser auf: Vor ihrem Haus treffen sich spät abends Jugendliche und hören laut Techno-Musik, Heike wacht mit Panik und Bedrohungsgefühlen auf. Was ihre negative Überzeugung in dem Moment sei? „Ich kann nichts machen“, sagt Heike, „und ich kann es nicht aushalten.“ Es fühle sich an, als gehe es um ihr Leben, als werde sie vernichtet. Sie fühle sich wie eingesperrt in einem engen Raum. Und wieder denke ich an ein traumatisches Geburtserlebnis.

Oder hat die Panik gar nichts mit Heikes Erfahrungen zu tun? Ich vermute auch an ein Transgenerationen-Trauma, eine Vererbung von traumatischen Erlebnissen durch die Eltern oder Großeltern. Was ihr noch zu plötzlichen, lauten Geräuschen einfalle? Heike wird jetzt schlecht. Sie erinnert sich an die Trillerpfeife der Turnlehrerin, die habe sie auch nicht ausgehalten.
Wir suchen weiter. Ob sie im Geburtskanal festgesteckt sei? Heike nickt, sie habe nachgefragt, man sei der Mutter schließlich auf den Bauch gesprungen und habe sie rausgedrückt. Ihr Gesicht hellt sich auf. Vermutlich hatte sie Todesangst, als sie im Geburtskanal feststeckte. Das könnte die Angst vor Enge erklären.

In der nächsten Sitzung versuchen wir, Heikes Daueranspannung zu lösen, und ich frage nochmal nach, ob jemand aus ihrer Familie im Krieg war und ob jemand erschossen wurde? Plötzlich wirkt Heike klar, sie schaut mich direkt an: „Nein, aber mein Vater hatte einen Schießstand auf dem Rummelplatz. Als meine Mutter mit mir schwanger war, sie war jeden Tag dort“. Niemand hat an das kleine Wesen im Bauch der Mutter gedacht. Wir nicken beide verstehend und atmen auf, wir haben den Täter anscheinend gefasst!

Und tatsächlich, fünf Jahre später begegne ich Heike zufällig, und sie erzählt mir, dass sie seitdem keine Panikattacken mehr gehabt habe.
Unglaublich und doch leicht nachzuvollziehen. Es ist wie in einem guten Krimi: man kommt nicht so leicht drauf, wie man das Rätsel lösen kann, und viele Vermutungen und Versuche scheinen zunächst ins Leere zu laufen. Und doch werden die Vermutungen konkreter, und es entsteht nach und nach ein Bild, das erlaubt, die richtigen Fragen zu stellen…