Komplizierte Trauer

Katharina hat vor 1 Jahr ihren Sohn verloren, 2 Tage hat man im Krankenhaus noch um sein Leben gerungen, der Todestag jährt sich in Kürze. Es geht auf und ab mit ihren Gefühlen und ihrer Lebenskraft, mal ist das Leben für sie sinnlos und der Verlust des Sohnes kaum zu ertragen, und dann wieder kann sie sich mal einen oder zwei Tage mit FreundInnen treffen und Freude in der Natur empfinden. Manche Tage erlebt Katharina heftige Wut, dass ihr Sohn sie verlassen hat. Immer wieder ist für sie das Leben trostlos und leer. So war es auch die letzten 2 Wochen, und niedergedrückt und traurig sitzt Katharina nun vor mir. Sie habe keine Perspektive, alles sei aussichtslos. „Alles ist ein Kampf“, sagt sie und wiederholt es ein paar Mal, während sie unter Tränen über ihren Alltag spricht.


„Gerade ist es mal wieder schlimm“, sagt sie, „in der Arbeit kann ich funktionieren, zum Glück, da schalte ich irgendwie um, aber zu Hause ist alles sinnlos. Es fehlt der Halt, und alles kostet so viel Kraft. Und da ist niemand sonst (Katharina hat Eltern, die nicht gut mitfühlen können). Obwohl ich Freunde und Freundinnen habe, aber die fragen nicht mehr nach, wie es mir geht, so als müsste mein Trauer mal langsam vorbei sein.“ Mir fällt mein Leitfaden für dem Umgang mit Gefühlen ein, in dem es darum geht, woher man heftige Gefühle kennt und was damals – und damit auch heute – geholfen hätte.
Ich schreibe zunächst Katharinas Gedanken und Gefühle auf, die sie mir gerade geschildert hat und jetzt nochmal ergänzt.
Es entsteht ein deutliches, gefühltes Bild in mir, als sie jetzt sagt: „da ist kein Gegenüber für meine Liebe“ (seit der Sohn gegangen ist). Das kommt mir richtig schlimm vor, das ist schwer zu ertragen.
Ich vermute, dass dies Gefühl „alt“ ist, aus der Kindheit vertraut. Da war niemand ihr Gegenüber, jemand, der auf sie geschaut hat, der mit ihr innerlich verbunden war, bei dem sie sich geborgen gefühlt hätte.

Ob ihr eine Situation einfalle, in der sie sich als Kind oder Jugendliche so verloren und alleingelassen gefühlt hat?
„Als ich mit 12 zu meiner Mutter gezogen bin und mein Vater enttäuscht war, dass ich mich nicht für ihn entschieden habe. Was hat er denn erwartet? Ich wohnte bei meiner Mutter, die arbeiten gehen musste. Sie war mit sich selbst beschäftigt, da war kein richtiger Halt. Ich habe nachts geweint und meinen Vater vermisst. Wenn ich bei ihm zu Besuch war, hat er sich mehr um die Freundin gekümmert.“ Wir bleiben eine Weile bei den Gefühlen von damals, dann frage ich weiter. Was damals ihr Bedürfnis gewesen wäre? „Halt und Liebe“, sagt Katharina ohne lange überlegen zu müssen.
„Wenn Sie sich vorstellen können, dass dies Bedürfnis nach Halt und Liebe irgendwie erfüllt worden wäre, wenn es auch eine Fantasie ist, oder wenn sie das vielleicht mal erlebt haben, dann gibt es das wenigstens in ihrer Vorstellung und kann helfen“, sage ich und hoffe, dass Katharina sich an etwas erinnert, was dem Loch und der Leere, die sie immer wieder empfindet, entgegenwirkt. Ich muss nicht lange warten, Katharina fällt nach einem kurzen Moment ihr Großvater ein. Sie sei 2 Jahre zwischen 9 und 11 bei den Großeltern auf dem Hof gewesen, dort habe sie vor allem von ihrem Opa Wärme gespürt, eine gleichbleibende Herzenswärme, und die Oma habe sich um alles gekümmert, sie sei durch die ganze Struktur auf dem Hof irgendwie ein Halt gewesen. Immer wieder kommen Katharina die Tränen.
Damit das Gefühl von Geborgenheit nicht untergeht, so als hätte es das nie gegeben, versuchen wir, diese schönen Gefühle in ihrem Körper zu „verankern“. – Dazu frage ich Katharina nach und nach, was sie mit den Großeltern auf dem Hof, dem Gefühl von Halt und Liebe assoziiert: Wo im Körper sie das schöne Gefühl am deutlichsten spüre? Welche Farbe sie damit verbinden könne? Ob ihr dazu Töne oder Geräusche einfallen? Ein Geruch? Vielleicht auch Worte oder ein Satz?

Im Gesicht von Katharina kann ich sehen, wie sich ihre Anspannung nach und nach löst. Das Gefühl sei im Brustraum, es sei rot, die Kuckucksuhr ticke im Wohnzimmer der Großeltern, es rieche wie auf dem Hof damals – Katharina ist nun innerlich dort, und ich lasse ihr Zeit, in das Gefühl von damals ganz einzutauchen. Für mich riecht es gerade nach Essen, Bohnerwachs, Heu und altem Holz… Zum Ende der Stunde geht es ihr besser. Es gibt für sie nun wieder mehr als das Aushalten von Leere und Aussichtslosigkeit, es gibt auch die Erfahrung von Liebe und Halt.
Diese Erfahrungen sind unvergesslich, weil wir – unser Gehirn und unser Körper – sie zusammen mit der Erinnerung an den Ort und dem Raum gespeichert haben. Und weil wir so, mit dieser Erinnerung, immer mal ein wenig auftanken und glauben können, dass nichts jemals ganz weg ist. Und weil es der Überzeugung entgegenwirkt, dass es an uns liegt, was uns durch andere Menschen geschieht.



LeserInnen mögen sich nun fragen, was an Katharinas Trauer kompliziert ist, wie ich es im Titel genannt habe. Zum einen, dass bei ihr frühere schwere Erfahrungen von allein und verlassen sein durch den Verlust des Sohnes, der ihr sehr nahe stand, getriggert werden, und zum anderen, weil sich Wut und Verzweiflung in die Trauer mischen, dass eine geliebte Person ihr das antut (wie der Vater damals), sie alleinzulassen, so als sei sie unwichtig.
Wie ein Lichtstrahl fällt die Erfahrung mit den Großeltern, wo sie wichtig, gehalten und geliebt war, in die schwarz gefärbte Überzeugung, unwichtig zu sein – weil Liebe bleibt.

3 Kommentare zu „Komplizierte Trauer

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