Schneewittchen: Fluch und Segen der Schönheit

Schönheit steht im Mittelpunkt des Märchens, mal bringt sie Schneewittchen in Gefahr (Neid der Stiefmutter), mal beschützt sie es (Zuneigung der Zwerge) und letztlich wird es durch sie gerettet (Liebe des Königssohns). Ihre Mutter hatte sich ein schönes Kind gewünscht, rot wie Blut, weiß wie Schnee und schwarz wie Ebenholz, reine Farben, harmonisch vereint. Wie traurig, dass diese Mutter nach der Geburt stirbt, aber wie fast immer in Märchen und Geschichten, sterben gute Mütter früh oder sind bereits gestorben. Darüber habe ich schon oft nachgedacht und mich gewundert…

Schönheit kann Schneewittchen nicht beschützen vor Neid und Missgunst, die in Menschen, vor allem in Frauen, entsteht, wenn sie die naturgegebene, unverdiente Schönheit anderer nicht ertragen können – warum wird sie der einen geschenkt und der anderen vorenthalten, warum ist das Schicksal so ungerecht? Mit Unglück kann man sich abfinden, mit Unrecht und Ungerechtigkeit nicht.

Gustav Klimt

Schönheit ist magisch und geheimnisvoll, sie verweist auf eine höhere Harmonie, die  wir nicht ergründen können. Es fühlt sich angenehm an, sie zu betrachten, wir bewundern sie manchmal, aber warum, was ist Schönheit? Hat sie mit Vollkommenheit, mit einem idealen, naturgegebenen Maß, mit Harmonie zu tun? Es gibt viele Theorien darüber.
Wer von uns will nicht gerne schön sein. Wie schwer haben es Frauen, die sich nicht schön finden und sich manchmal deshalb sogar selbst hassen. Wenn man wenigstens etwas, nur einen Körperteil an sich selbst schön finden kann, ist das tröstlich, und wenn hin und wieder mal jemand sagt, dass man schön aussieht, ist es äußerst wohltuend. Aber die Schönste sein zu wollen wie die Stiefmutter von Schneewittchen, ist maßlos übertrieben, das ist krankhaft narzisstisch. Nicht ein Objekt soll schön sein und das Herz berühren, nicht die Freude daran ist das erwünschte, lustvolle Ziel, sondern man selbst und die eigene Überlegenheit.
Das ist destruktiv, hochmütig und süchtig, es findet kein Ende, es befriedigt nicht. Das, was wir heute „Schönheitswahn“ nennen, wird im Märchen ins Abgründige verzerrt dargestellt durch die Figur der bösen  Stiefmutter. Sie erträgt den zweiten Platz nicht, es muss die Goldmedaille sein, sie will von allen geliebt werden, wie heute manche Stars, und sie muss diesen Status als „die Schönste im ganzen Land“ unter allen Umständen behalten.

Schönheit verändert sich und verblasst mit der Zeit, und der Schmelz der Jugend, der Schneewittchen erstrahlen lässt, weckt Neid in der Stiefmutter. Warum dieser Hass gegen die Stieftochter und der Wunsch, sie zu töten? Weil Schneewittchen geliebt wird, weil sie Zuwendung und Aufmerksamkeit bekommt, weil sie schön ist und Blicke wie Herzen anzieht. Schönheit als unergründliche, natürliche Harmonie, die ohne eigenes Zutun geschenkt wurde, darf für die Stiefmutter nur existieren, wenn sie die Nummer eins bleibt, überlegen und unerreicht in ihrer königlichen Würde. Die Anmut der Heranwachsenden ist ihr ein Dorn im Auge. Sie will die Königin, will überlegen sein, und dabei geht es nur um sie selbst, um ihr Spiegelbild, ihren Narzissmus, der nicht gekränkt werden darf, sonst entsteht unermessliche Wut, die zerstören will, Kränkungswut.

Schönheit ohne menschliches Gegenüber? Wieso ist da niemand, für den sie, die  Stiefmutter, schön sein, dem sie gefallen will? Wen interessiert es draußen im weiten Land, dass sie die Schönste ist? Wo ist ihr Mann, der König, der sie bestätigen könnte, was sie dringend braucht – und welche Frau kennt das nicht, das Bedürfnis nach Bestätigung der eigenen Wirkung? Sie fragt also ihren Spiegel, der magisch, wie aus einer metaphysischen Welt, mehr weiß als ein Mensch. Diese Stiefmutter, die nicht mit sich als Person, sondern mit ihrem äußeren Bild identifiziert ist, glaubt dem Spiegel. Für sie zählt nur dieses eine Kriterium, die eigene äußere Schönheit, innerlich ist sie leer. Sie muss die Nummer eins sein, sonst reicht es nicht, sonst hat es keinen Wert. Sie erträgt keine Konkurrenz, ihr Größenselbst, ihr aufgeblähtes Ich dehnt sich über das ganze Königreich aus. Sie ist nicht bereit, sich zu begrenzen und andere Frauen neben sich bestehen zu lassen.
Andere könnten sie interessant, sympathisch, warmherzig, großzügig oder liebenswert finden, aber das kann sie sich nicht vorstellen.
Einerseits kennen wir das, die einzige sein zu wollen, besonders, wenn wir verliebt sind. Andererseits ist die Grausamkeit der Stiefmutter kaum nachvollziehbar, sie isst sogar Lunge und Leber der Stieftochter (ohne zu wissen, dass sie in Wirklichkeit die einer Hirschkuh isst), als könnte sie nur so sicher sein, Schneewittchen als Konkurrentin restlos zu zerstören und sich gleichzeitig etwas von ihr innerlich zu eigen zu machen als Ausdruck pervertierter Liebe und damit ihr Gegenteil. Hassen kann sie, lieben nicht.

Schönheit ist unantastbar. Sie beschwört den Konflikt zwischen Mutter und Tochter herauf, die eine als weibliches Wesen aufblühend, die andere verblassend und frustriert durch den Mangel an Bestätigung als Frau. Das Märchen (die Brüder Grimm) spaltet die Mutterfigur in eine verstorbene gute und eine verfolgende böse Stiefmutter und lässt den bei mancher Mutter mitunter aufkommenden gutartigen Neid in Hass und Todeswünsche ausarten.
Und damit es auch abstoßend genug ist, wird als Beweis des Mordes Lunge und Leber verlangt. Der beauftragte Jäger hat Mitleid, lässt Schneewittchen leben, es irrt durch den Wald, findet ein Zwergenhäuschen, isst, trinkt und legt sich schlafen.

Schönheit stimmt die Zwerge nachsichtig, wer schön ist, genießt Vorteile, und Schneewittchen darf bleiben. In der Welt der Zwerge, in ihrem neuen Zuhause, ist sie sicher und geborgen. Die Zwerge, kleine asexuelle Männer, können ihr nicht gefährlich werden. Schneewittchen bleibt gerne, es sucht sich das passende siebte Bett aus und hat einen guten Deal mit den sieben Zwergen, es hält gegen Kost und Logis das Häuschen in Ordnung. Sie scheint zufrieden zu sein und kann in Ruhe erwachsen werden.

Schneewittchen ist vertrauensvoll – oder sollen wir es naiv nennen? Im weiteren Verlauf des Märchens auch gegenüber der Krämerin, in der maskiert die böse Stiefmutter steckt. Dreimal verliert sie dadurch ihr Bewusstsein, nachdem sie von dieser einen Schnürriemen, einen Kamm und einen Apfel  angenommen hat, sie fällt dreimal in einen tiefen Schlaf und ist so gut wie tot. Zweimal können die Zwerge sie wiederbeleben. Doch noch ein drittes Mal fällt sie auf die Stiefmutter rein und lässt sich verführen, ein gesundes Misstrauen konnte sie bisher nicht entwickeln, sie ist noch zu jung, sie kennt selbst keinen Neid und rechnet so auch nicht bei anderen damit, es ist außerdem noch immer alles gut gegangen…

Schönheit will gezeigt werden. Schneewittchen ist nun mal eine Frau! Und damit anfällig für die Angebote, sich mit einem Gürtel und einem Kamm zu schmücken. Die Zwerge warnen Schneewittchen zwar vor der bösen Stiefmutter, aber sie kann nicht auf sich aufpassen und fällt auf die Maskerade rein, sie ist nun mal verführbar – und das weiß die Stiefmutter.
Es ist der Apfel, der die Mordabsichten der Stiefmutter anscheinend zum Erfolg führt, und der symbolisch für Begierde steht seit Adam und Eva. Da kann ein Zwerg, nicht Mann und nicht Kind, nicht mehr helfen. Nach diesem dritten (eigentlich vierten) Mordversuch durchlebt Schneewittchen ein Moratorium, einen todesähnlichen Zustand, in dem verborgen im Inneren, abgeschieden von der Welt, eine innere Entwicklung stattfinden kann.
Ein Königssohn muss kommen! Und er verliebt sich in sie. Schneewittchen muss erst weggetragen werden, um dann durch einen Stoß, ein Rumpeln, wieder lebendig zu werden.
Ein Glassarg wird für sie gebaut, der König, die Zwerge und sogar die Tiere im Wald wollen ihre Schönheit weiterhin betrachten und genießen. Man spürt die Hoffnung der Trauernden, dass Schneewittchen nicht verloren sein möge. Was könnte sie wieder lebendig machen? Eigentlich logisch: sie muss den vergifteten Teil des Apfels der bösen Stiefmutter ausspucken und sich damit von dem befreien, was sie zuvor aufgrund von Verführung, Naivität und eigener Begierde wider besseres Wissen runtergeschluckt hat. Und die böse Stiefmutter? Sie mag es nicht glauben, dass Schneewittchen lebt, sie kommt auf die Hochzeit, sie ist neugierig und rechnet nicht mit einer Strafe, sie als Königin. Sie muss sich jedoch auf glühenden Kohlen zu Tode tanzen – ist das nicht gerecht?

2 Kommentare zu „Schneewittchen: Fluch und Segen der Schönheit

  1. Zu Schneewittchen:
    Diese einfühlsame Interpretation eröffnet noch den Blick auf Facetten, die mir bisher entgangen sind: dass die böse Königin eine einsame Narzisstin ist, deren einziges Gegenüber ein Spiegel ist. Oder ist damit angedeutet, dass Narzissten jeden Menschen in ihrer Umgebung lediglich zum Spiegel ihrer selbst degradieren?
    Und die Interpretation führt eindrucksvoll aus, wie wenig glücklich dieser Schönheitswahn diejenige macht, die ihm verfallen ist. Und wie einsam ihr Todestanz ist, (von einem Tanzpartner ist im Märchen nicht die Rede).

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