Die Mutter von Rapunzel ist süchtig, und zwar nach Rapunzeln, und sie will sie haben, aus dem Garten der Nachbarin, viel davon, egal, was es sie kostet. So beginnt das Märchen von Rapunzel. Der männliche Anteil dieser Mutter ist noch schwach, kann nicht verzichten und nicht Nein sagen, repräsentiert im Märchen durch den Ehemann.
Eine andere Mutter, die böse, eine Hexe, die im Nachbarhaus wohnt, verlangt das Kind als Gegenleistung für das, was die Mutter von Rapunzel sich heimlich genommen hat, eben Rapunzeln, ein Kraut. Sie verliert den Zugang zu ihrem Kind. Und damit zu ihrem Anteil, der fühlt, der lebendig ist und sich auf natürliche Weise entwickelt. Für ihre Sucht und ihre Heimlichkeit muss sie den höchst schmerzhaften Preis zahlen.
Mit der Pubertät von Rapunzel tritt über sie die absolute Kontrolle durch die Hexenmutter ein. Diese will verhindern, dass sie verlassen wird. Was sie einmal hat, will sie nicht lassen.
Rapunzel wird in einen Turm eingesperrt, und so wird sie erwachsen, ohne selbständig werden zu können, ohne ihr eigenes Leben zu gestalten. Mit ihrem langen Haar gewährt sie der Ziehmutter notgedrungen Zutritt in ihr Turmzimmer und wird von ihr versorgt. Wenn sie die langen, festen Haare abschneiden würde, symbolisch „den alten Zopf“, das Alte, Traditionelle, Sichere, wäre sie unversorgt und müsste sterben. Ohne diese Mutter kann sie nicht leben, sie bleibt abhängig.
Nun kommt der Königssohn als Retter auf den Plan, und sie verlieben sich. Die Entwicklung ist nicht aufzuhalten, Rapunzel ist eine Frau. Die geplante Flucht kommt auf, wird von der zornigen Hexenmutter vereitelt, der Königssohn stürzt vom Turm hinunter und erblindet. Die heimliche Flucht hat als Ausweg nicht funktioniert.
Rapunzel wird von ihrer grausamen Mutter „in die Wüste geschickt“. Mit Verständnis oder Nachsicht ist nicht zu rechnen bei der vereinnahmenden, falschen Mutter. Wie finden die beiden Liebenden, Rapunzel und der Königssohn zueinander? Wie wird alles wieder gut? Was ist der Ausweg?
Rapunzel hat weder gelernt, ihr Leben zu gestalten, noch hat sie in der Wüste ein passendes Umfeld dazu, aber sie singt, und zwar sehr schön, der Gefühlsausdruck und die Sehnsucht lassen sie überleben.
Der Königssohn, ihr männliches Gegenstück, sucht sie trotz Blindheit, sie gehören zusammen. Und über den Gesang von Rapunzel findet er sie. Welch ein Glück, Rapunzel weint, und durch die Tränen von ihr wird er wieder sehend.
Singen und Weinen als Erlösung, als Ausdruck von echtem Gefühl, als Überlebenshilfe, als Ausdruck von innerer Lebendigkeit, von Menschlichkeit und Befreiung von Kontrolle, Trauma und Einsamkeit. Wie wunderbar!
Musste der Königssohn durch den Fall in die Dornen erblinden? Der blinde, umherirrende Königssohn war für mich als Kind eine Horrorvorstellung. Hätte er Rapunzel nicht sehend suchen und finden können? Nein. Die Gegenkräfte sind zu mächtig. Sucht, Kontrollzwang, Egoismus, Verhinderung von Entwicklung sind nicht durch eine geplante Suche überwindbar, weder für die Täter, noch für die Opfer. Der Weg zur Befreiung und Wiedervereinigung ist leidvoll und nicht absehbar. Der Königssohn lernt, den Weg zu finden, indem er hinhört. Er findet seine Liebste, seinen weiblichen Gegenpart durch ihre Stimme und durch Sehnsucht. Und Rapunzel weint dann, das Leid löst sich, die Gefühle sind wahrhaftig, ohne Worte. Und dadurch kann er wieder sehen und sich orientieren. Ist das nicht schön.