Julia, das Selbstwertgefühl und das (nicht) ernst genommen werden

„Ich habe mich letzte Woche so geärgert über meine Schwiegereltern!“ So beginnt Julia die heutige Stunde. Sie habe immerhin erreicht, dass ihr Mann und nicht sie mit seinen Eltern über den Kritikpunkt geredet habe, aber das habe nichts gebracht. Die Schwiegermutter schalte bei Bitten zum Umgang mit dem 5-jährigen Kind auf Durchzug, mit dem Schwiegervater komme es zu fruchtlosen Streitgesprächen. Die Beiden hätten einfach keine Einsicht und machten so weiter, wie sie es gewohnt seien. „Sollen wir unser Kind nicht mehr zu ihnen lassen?“ fragt Julia ratlos.

Das hört sich nach einem Gefühl der Ohnmacht an, nach Ärger, der nagt und wurmt und sich immer neu entfacht. Da ich die Erfahrung gemacht habe, dass hilfloser Ärger mit dem Selbstwertgefühl oder der eigenen verborgenen Unsicherheit zu tun hat, bitte ich Julia, den Satz zu ergänzen:
„Ich bin es nicht wert, dass…“

Sofort kommt die Ergänzung, „…dass ich ernst genommen werde!“
Auch beim Partner erlebe sie das immer wieder, sie bitte ihn um etwas, und es sei so, als hätte sie nichts gesagt, er mache weiter wie gewohnt. Wie sich das in ihr anfühle, in ihrem „Brustbauchraum?“ (ich mag dieses Wort).
„Wie ein Loch“, sagt Julia. Das habe einen Rand.

Jetzt tritt der Moment ein, der oft in der Therapie vor einer Veränderung entsteht, wenn eine innere gefühlte Wahrheit bewusst wird und ausgedrückt werden kann. Wo ist die Lösung?
Was tun? Julia will das unangenehme Loch ja nicht haben, sie will es loswerden. Sie zu fragen, mit was sie es füllen möchte, käme mir zu schnell und zu einfach vor, wir haben es noch nicht verstanden, das Loch. Und an dieser Stelle Selbstsicherheitstraining einzusetzen, ist aus meiner Erfahrung nicht erfolgversprechend,  das Problem und die Lösung liegen bei Julia offensichtlich tiefer.

Wir setzen das Loch in der Vorstellung auf einen dritten Stuhl. Es wirkt unsicher und nervös,  sagt Julia, es will nicht gesehen werden. „So ist es bei mir ganz oft,“ sagt Julia, „ich will mich lieber nicht zeigen und bleibe still, obwohl ich etwas sagen möchte, das ärgert mich manchmal.“ Auch im Beruf halte sie sich oft unnötigerweise zurück.

Wie so oft, ist die Schlüsselfrage jetzt die nach dem Bedürfnis. Was braucht das Loch? Und Julias Antwort fällt anders aus, als erwartet.
„Dass ihm jemand, die gute Mutter, sagt: ‚Du bist ok und richtig, wie du bist!‘“ Julia schaut zum Stuhl und auf das Loch, und die Atmosphäre verändert sich, sie fühlt sich dichter an und wohltuend. „Dann füllt sich das Loch auf, wie mit einer Art von Gel, weich und doch fest, und dann prallen die blöden Sätze der Schwiegermutter, ihr Unverständnis und ihre Ausreden daran ab.“ Wir freuen uns…

„Und jetzt?“ fragt Julia, und ich bin schon am Überlegen.
„Können Sie das Loch, das keins mehr ist, wieder in sich reinnehmen?“
Das fühle sich im Bauch geborgen und sicher an. Endlich. „Ich darf mich einfach entscheiden, auch wenn es falsch ist, das ist ok… und ich mache einfach selbst die Tür zu, wenn mein Mann das mal wieder vergisst, so dass er es merkt… ich kann handeln, anstatt so viel zu denken und zu reden.“ Bisher habe sie doch heimlich gezweifelt, ob sie nicht zu streng und die Schwiegereltern im Recht seien…

Wir freuen uns beide über die Veränderung, Julia, weil sie sich nicht mehr hilflos fühlt sondern sich zutraut, etwas bewirken zu können (was wir im Psycho-Sprech „Selbstwirksamkeitsüberzeugung“ nennen), und ich, weil es gelungen ist, das Bauchgefühl zu verändern, das Körpergefühl. Ihre Stimme wird in Zukunft wahrscheinlich anders, überzeugender klingen, wenn sie etwas erreichen will. Übrigens: auch Algorithmen können aus der Stimme einer Person heraushören, wie selbstsicher oder sensibel und bei welchen Themen jemand unsicher ist.

2 Kommentare zu „Julia, das Selbstwertgefühl und das (nicht) ernst genommen werden

  1. Ich kann nur immer wieder betonen, dass dieser Blog den Therapieprozess für alle, wirklich alle, die am Thema interessiert sind, eine erfreuliche Schatztruhe ist: Für Menschen, die sich nicht zur Therapie wagen, können diese Texte helfen, die Hürde zu nehmen, und für Lernende und KollegInnen ist der Blog eine Art von Fortbildung. Insbesondere gefällt mir, dass hier dargestellt ist, wie im therapeutischen Gespräch eben nicht schnelle Hilfen angeboten werden, sondern wie es gelingt, die Probleme hinter den Problemen erlebbar und damit lösbar zu machen.

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