Wenn meine PatientInnen über stark belastende Erlebnisse sprechen, noch ohne sie einordnen und verstehen zu können, dabei sich selbst nicht mehr spüren oder „müde“ werden, besonders in den Augen, sehe ich häufig verschwommen und bekomme einen inneren Zugang zur Tiefe des Bedrohlichen, des Traumas, über das gerade hinweggesprochen wird – dann sage ich oft „ich sehe Sie gerade wie im Nebel“. Dann versuchen wir zu erspüren, welche Erfahrung sich darin verbirgt, und manchmal sind es nicht die eigenen.
Heute in der Stunde mit Ella ging es um einen angstmachenden Nebel, und als ich später nach Literatur über transgenerationale Traumaweitergabe suchte, fand ich den Titel „Nebelkinder. Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte.“ (s. Lit.hinweis unten).
Ella hat schon viele Stunden bei mir an ihrem Gefühl gearbeitet, sich immer wieder überfordert und überrollt zu fühlen. Sehr bestimmt stellt sie heute fest: „ich lasse mich nicht mehr überrollen!“. Wie lange habe sie daran arbeiten müssen. Sie habe sich Fotos angeschaut aus der Zeit, als ihre Tochter klein war und erschrocken festgestellt, dass sie fast durchgehend depressiv und traurig ausgesehen habe. Jetzt gehe es ihr viel besser, auch mit ihren Gelenkschmerzen.
Und immer wieder sei ihr das Tor vor ihr inneres Auge gekommen, das in der Sitzung der letzten Woche im Zusammenhang mit einer Imagination (einer therapeutischen Technik mit symbolischen Bildern) Thema gewesen war. Sie sehe es auch jetzt vor sich. Sie könne nicht hindurchgehen, unter keinen Umständen! Das Tor und dies Gefühl lasse sie aber nicht los. Sie wolle nicht hindurchgehen, auf keinen Fall! Da sei Nebel. Der sei furchtbar gruselig! Der würde sie – hier sucht Ella nach dem passenden Wort – umhauen.
Ich frage nach möglichen Helfern und Unterstützern, die ihr diesen Schritt durch das Tor ermöglichen könnten. „Nein“, sagt Ella, „Aber ich könnte in einer schwebenden Kugel sein, in der ich beweglich bin, das geht. Dann schwebe ich durch das Tor in den Raum dahinter“, sagt sie und schaut mich an. Sie fühle sich jetzt erstarrt. Am ganzen Körper total angespannt. Eingefroren. Das Grauen dieses Nebels schwappt jetzt zu mit herüber.
Um Ella aus diesem körperlichen Trauma-Zustand rauszuholen, soll sie ihre Augen ein paar Mal schnell hin- und herbewegen. Nach meiner Erfahrung löst das körperliche Traumaverspannungen sehr rasch und effektiv.
So auch jetzt bei Ella, sie ist wieder handlungsfähig. „Es ist weg“, sagt sie etwas ungläubig. „Jetzt geht der Nebel zur Seite“, sagt sie, „Er ist jetzt rechts und links von mir, und vor mir ist ein Weg, weiter hinten ist es hell!“.
Spätestens jetzt bin ich mir sicher, dass es nicht Ellas traumatische Erfahrung ist, die sich hier in der Imagination darstellt.
Bevor ich etwas Weiterführendes sagen kann, platzt es aus ihr heraus: „Ich sehe meinen Vater!“ und nach einer Pause: „Was hat das denn mit dem zu tun?!“. „Entweder ist es Ihre Angst vor dem Vater oder es ist seine Angst“, sage ich.
„Es ist die Angst meines Vaters, ganz sicher! Er war kriegstraumatisiert, er war Jahrgang 1933, er musste für die Eltern, die tagelang im Bunker verharrten, Essen besorgen, er hat oft über den Krieg gesprochen, wir wollten das oft nicht, er hat sich mit Alkohol betäubt und später viel über seine Kriegserlebnisse aufgeschrieben.“ Ella wirkt jetzt sehr bewegt. Wiederholt stellt sie erfreut und mit Tränen in den Augen fest, dass der Weg vor ihr hell ist, und dass das ihr eigener Weg ist. Dass der Nebel sich hinter ihr auflöst und sogar das Tor nicht mehr sichtbar sei. Sie strahlt mich an.
Um Ella darin zu bestätigen, dass sie als Kind das Trauma des Vaters atmosphärisch aufgenommen hat, erzähle ich ihr eine eigene Erfahrung mit einer traumatischen Angst meines Großvaters, der in beiden Weltkriegen verschüttet gewesen war, und wie ich als Kind in der Wohnung meiner Großeltern eine diffuse Angst gespürt hatte.
„Ein falscher Schritt, und ich bin tot“ hatte sich als irrwitzige Überzeugung in mir verankert, die ich mühsam aus dem Unbewussten ins Bewusstsein holen musste. Die als Angst gegenüber Autoritätspersonen, die mich unbewusst an meinen Großvater erinnerten, manchmal – mir unerklärlich – als Angst aufgetaucht war und dann, nach der Zuordnung zu den Kriegserlebnissen meines Großvaters, verschwand.
Als Ella nach der Sitzung zur Tür geht, sind wir beide noch bewegt, verwundert und vor allem dankbar für diesen entscheidenden neuen Schritt und das Bild vom hellen, freien Weg.
Bei Interesse kann man über Kriegskinder, Kriegsenkel und „German Angst“ bei Sabine Bode mehr zu dem Thema nachlesen. Zum Begriff „Transgenerationale Traumaweitergabe“: Unverarbeitete seelische Traumata können sich auf die Nachkommen übertragen. Als „Kriegsenkel“ bezeichnet man Kinder von Kriegskindern des Zweiten Weltkriegs. Der Begriff beschreibt Menschen, die durch die von ihren Eltern erlittenen, unverarbeiteten seelischen Traumata indirekt traumatisiert wurden. Der Begriff wird für die Jahrgänge zwischen 1960 und 1975 verwendet. Die traumatischen Erfahrungen der Eltern und Großeltern sind für die Kinder atmosphärisch spürbar, ohne dass sie auf konkrete eigene Erfahrungen zurückgeführt werden können. Inzwischen gibt es zahlreiche naturwissenschaftliche, psychotherapeutische und sozialpsychologische Forschungsergebnisse dazu. Wie genau die Traumata weitergegeben, quasi „vererbt“ werden, ist noch nicht wissenschaftlich geklärt.
Weitere Literatur:
Joachim Süss, Michael Schneider (Hrsg.): Nebelkinder. Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte. Europa, Berlin, München, Wien 2015 Hartmut Radebold, Werner Bohleber und Jürgen Zinnecker: Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. Juventa, Weinheim 2008 Bettina Alberti: Seelische Trümmer: Geboren in den 50er und 60er-Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas. Kösel, München 2010 Marianne Rauwald (Hrsg.): Vererbte Wunden. Transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen. Beltz, Weinheim, Basel 2013

Generationenübergreifend…aber einmal erkannt und “gelöst”, wenigstens “gelockert”, so glaube ich,
hilft das nicht nur der Patientin, sondern auch der vergangenen Generation und die, welche noch kommen mögen…mich motiviert das zumindest bei mit “Lösungen” zu finden und mutig weiter zu gehen….Danke
Ein besonders hilfreicher Artikel: nicht nur den Verlauf der Therapiestunde dürfen wir miterleben, sondern wir bekommen auch den theoretischen Hintergrund sowie Literaturhinweise geboten!!