Lähmende Peinlichkeit und wie ich einen Ausweg fand

Ich biege um die Hausecke der Universität München, will auf den Eingang zugehen und halte inne. Ich blicke auf die vielen jungen StudentInnen, die sich in kleinen Gruppen vor allem um den sprudelnden Brunnen scharen. Ein reges Treiben, ein angenehmer, lebendiger Eindruck und dennoch halte ich inne, etwas lähmt mich. Ich hatte mich für einen Vortrag über Scham angemeldet, den ein Professor aus Kalifornien halten sollte.

Ich kann plötzlich keinen Schritt vorwärts gehen. Vereinnahmt von der Vorstellung, dass alle auf mich schauen würden, wenn ich mich als ältere Frau dem Eingang nähern würde, bremst mich etwas. Sie würden denken „was will die denn hier?“, mich abschätzig betrachten und bestenfalls ignorieren. „Du gehörst doch wohl nicht hierher!“ würden sie mir mit Blicken zu verstehen geben. Zu dieser scheinbar leichtlebigen Studentenwelt gehörte ich nicht dazu, ich konnte, so wie ich mich sah, nicht Teil des Bilds werden.

Ein paar Schritte weiter an einer Hausecke des großen Gebäudes fühle ich mich etwas sicherer und überlege. Nach Hause zu fahren, kam nicht infrage. Aber was soll ich tun?
Es geht, so mache ich mir immer mehr klar, um das Bild, das ich meine, vor den anderen abzugeben, das mich ausschließt und als ungenügend erscheinen lässt, ich sehe mich im Nachteil, im Unterstatus.
Da mir bewusst ist, dass das Ganze innerlich vorweggenommen, gefühlt unumstößlich aber ein innerer Film ist, frage ich mich, woher ich das kenne, dass jemand ablehnend auf mich schaut.

Gleichzeitig schäme ich mich vor mir selbst. Es kann doch nicht sein, dass ich so hilflos in dem Gefühl der Peinlichkeit gefangen bin. Endlich fällt mir meine Großmutter ein, von der manche gesagt hatten, dass sie kein Herz hatte. Nach ihrem Tod stellte man fest, dass es sich auf der rechten Brusthälfte befunden hatte. Bei ihr war alles streng geregelt, man musste leise sein und ihre Missbilligung ging durch alle Knochen. Noch schlimmer war es, wenn sie mich ins Kinderzimmer verbannte. Dann war ich allein auf diesem Planeten.

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Die Erinnerung lässt mich besser atmen, ich habe den Grund dafür gefunden, dass ich aus der Realität gefallen bin. Aber wie komme ich aus der inneren Lähmung heraus? Ich brauche einen anderen Blick auf mich, er solle liebevoll und annehmend sein. Dann würde ich mich besser fühlen.

Ja, doch, da gab es mal jemanden. Ich merke plötzlich, wie wichtig diese Erfahrung für mich gewesen war. Patrick war ein älterer Kollege, der mich freundlich unterstützt hatte und mir weiterhalf, wenn ich als Studentin mit den Anforderungen im Büro nicht zurechtkam. Ich liebte seinen Geruch von Zigarettenrauch und teurem After Shave. Würde es genügen, mich mit dem Gefühl von Wärme und bedingungsloser Zuwendung, die ich durch ihn damals erlebte, dem Eingang der Uni zu nähern? Würde der Switch in eine andere Verfassung, in das Gefühl der Verbundenheit mit mir selbst funktionieren?

Ich gehe ein paar Schritte auf den Brunnen zu und muss innerlich grinsen: wie absurd war doch die Vorstellung, dass die StudentInnen auf mich schauen würden! Sie sind mit sich selbst beschäftigt, warum sollen sie mich überhaupt bemerken oder gar Gedanken über mich machen? Ich war wie in einem anderen Film gewesen. Jetzt fühle ich mich leicht und frei. Niemand scheint mich zu beachten.

Der Vortrag des Professors über Scham ist dann nicht weiter spannend, er gibt einige Informationen und stellt wissenschaftliche Erkenntnisse vor, zum Beispiel, dass durch bildgebende Verfahren die Reduktion der Denkfähigkeit bei Scham nachgewiesen werden kann. Er empfiehlt, dass Therapeuten ihre eigene Scham wahrnehmen sollen, und dass man mit Menschen, die sich schämen, achtungs- und verständnisvoll umgehen soll.
Für mich hat sich die weite Reise des Professors aus Kalifornien auf jeden Fall – anders als erwartet – gelohnt. Ich versuche, mich weiter an den Geruch von Patricks Aftershave zu erinnern und fahre zufrieden nach Hause.

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