Als Heike die Therapie beginnt, hat sie ein klares Ziel: sie will ihre Panikattacken loswerden oder wenigstens besser damit umgehen können.
Im Rückblick kommt mir der Therapieverlauf wie ein Krimi vor. Der Täter: unbekannt. Er schlägt aus dem Nichts zu und verursacht höchste Angstgefühle. Etwas Dunkles steigt dann von unten in Heike hoch, ihr Magen drückt, der Kehlkopf und der Brustkorb verengen sich, das Atmen fällt schwer, der Puls steigt und Verzweiflung kommt auf: nicht schon wieder! Todesangst flammt auf. Dieser Zustand kann ein paar Minuten oder ein paar Stunden anhalten.
Heike hat nach Hilfen gesucht, sie hat es bereits mit Kaba Extrakt und Tavor versucht, sie hat Bücher gelesen, Yoga gelernt und Atemübungen gemacht, nichts hat geholfen, ein Hörsturz kam dazu.
Wir gehen auf die Suche nach Hinweisen, was die Panik auslösen oder verursachen könnte. Und als würde man im Londoner Nebel immer mal den Blick auf eine Gestalt erhaschen, finden wir immer wieder mal kurz eine greifbare mögliche Ursache. Der Krankenhausaufenthalt der Mutter zum Beispiel, als Heike ein Kind war, das Gefühl alleingelassen und überfordert zu sein. „Keiner hat sich um mich gekümmert“, stellt sie fest, „die Aufmerksamkeit hat gefehlt.“
Heike hört Entspannungsmusik, versucht ihren Stress zu reduzieren, und gerade da schlägt die Panik wiederholt zu. Ich versuche es mit Anleitungen, wie Heike sich selbst besser wahrnehmen und sich besser um sich kümmern kann und sich selbst die Aufmerksamkeit gibt, die sie nach der Erkrankung der Mutter vermisst hat. Nach einer Inneren-Kind-Übung hat Heike zwei Tage lang Panik.
Heike spricht nun von ihrer Klaustrophobie, die in der Schulzeit begonnen hätte, von ihrer Angst vor Enge. Dabei fängt ihr Ohr an zu brummen, und sie erinnert sich, dass die Mutter manchmal explodiert sei und gebrüllt habe. Sie habe als Kind immer funktionieren müssen. Als Heike bei einem Konzert Panik bekommt, bringe ich ihr bei, in solchen Situationen positive Sätze, Entspannung, Atemübungen und Ablenkung einzusetzen.
Der Nebel lichtet sich ein wenig, als deutlicher wird, was die Auslöser sein können: plötzliche oder hämmernde laute Musik, das Gefühl der Enge und der Überforderung. Wegen der Angst vor Enge frage ich nach, wie ihre Geburt verlaufen sei. Heike wird die Mutter fragen.
Und wie verhext, taucht ein typischer Auslöser auf: Vor ihrem Haus treffen sich spät abends Jugendliche und hören laut Techno-Musik, Heike wacht mit Panik und Bedrohungsgefühlen auf. Was ihre negative Überzeugung in dem Moment sei? „Ich kann nichts machen“, sagt Heike, „und ich kann es nicht aushalten.“ Es fühle sich an, als gehe es um ihr Leben, als werde sie vernichtet. Sie fühle sich wie eingesperrt in einem engen Raum. Und wieder denke ich an ein traumatisches Geburtserlebnis.
Oder hat die Panik gar nichts mit Heikes Erfahrungen zu tun? Ich vermute auch an ein Transgenerationen-Trauma, eine Vererbung von traumatischen Erlebnissen durch die Eltern oder Großeltern. Was ihr noch zu plötzlichen, lauten Geräuschen einfalle? Heike wird jetzt schlecht. Sie erinnert sich an die Trillerpfeife der Turnlehrerin, die habe sie auch nicht ausgehalten.
Wir suchen weiter. Ob sie im Geburtskanal festgesteckt sei? Heike nickt, sie habe nachgefragt, man sei der Mutter schließlich auf den Bauch gesprungen und habe sie rausgedrückt. Ihr Gesicht hellt sich auf. Vermutlich hatte sie Todesangst, als sie im Geburtskanal feststeckte. Das könnte die Angst vor Enge erklären.
In der nächsten Sitzung versuchen wir, Heikes Daueranspannung zu lösen, und ich frage nochmal nach, ob jemand aus ihrer Familie im Krieg war und ob jemand erschossen wurde? Plötzlich wirkt Heike klar, sie schaut mich direkt an: „Nein, aber mein Vater hatte einen Schießstand auf dem Rummelplatz. Als meine Mutter mit mir schwanger war, sie war jeden Tag dort“. Niemand hat an das kleine Wesen im Bauch der Mutter gedacht. Wir nicken beide verstehend und atmen auf, wir haben den Täter anscheinend gefasst!
Und tatsächlich, fünf Jahre später begegne ich Heike zufällig, und sie erzählt mir, dass sie seitdem keine Panikattacken mehr gehabt habe.
Unglaublich und doch leicht nachzuvollziehen. Es ist wie in einem guten Krimi: man kommt nicht so leicht drauf, wie man das Rätsel lösen kann, und viele Vermutungen und Versuche scheinen zunächst ins Leere zu laufen. Und doch werden die Vermutungen konkreter, und es entsteht nach und nach ein Bild, das erlaubt, die richtigen Fragen zu stellen…
Dieser “Krimi” macht Mut: es gibt eine Lösung für Panikattacken, und die Suche ist keine Zauberei, sondern gutes psychotherapeutisches Die-richtigen-Fragen-Stellen.
Hoffentlich lesen das viele Menschen mit ähnlichen Problemen!