Die meisten von uns kennen eine Aschenputtel-Situation, begleitet von Hilflosigkeitsgefühlen.
Wie kommt nun Aschenputtel aus ihrer misslichen Lage raus?
Sie muss von morgens bis abends in der Küche arbeiten und nachts in der Asche neben dem Herd schlafen, sie muss Hohn und Spott ihrer zwei Stiefschwestern ertragen, der Stiefmutter ist das recht, der Vater hält sich raus und kümmert sich um seine Geschäfte. Sie ist alleingelassen, wird ausgenutzt und gedemütigt. Wir fühlen mit ihr. Wäre es nicht normal, dass sie auf Rache sinnt? Aber so gewinnt man nicht die Oberhand, was Aschenputtel schließlich gelingt. Sie lässt sich nicht unterkriegen, und das gefällt uns – Aschenputtel, Cinderella, ist das beliebteste Märchen.
Aschenputtel hat ein inneres, unabhängiges Selbstwertgefühl und Urvertrauen, beides ist durch ihre verstorbene Mutter in ihr angelegt. Ein guter Mensch zu sein, was die sterbende Mutter ihr ans Herz legt, und über den Tod hinaus geliebt und beschützt zu sein sind Überzeugungen, die Aschenputtel die Abwertungen, die wir heute Mobbing nennen würden, ertragen lässt. Deshalb ist es ihr auch möglich, heimlich auf den Ball des Königs zu gehen, nicht aufzugeben, und sich zuzutrauen, den Prinzen für sich zu gewinnen, ohne sich vor Scham über ihre armselige Situation selbst in die Ecke zu stellen. Was für eine Stärke, die sie in ihrer Lage entwickelt! Nicht nur die Tauben und die prächtigen Kleider und Schuhe, sondern vor allem ihre innere Überzeugung, dass sie es wert ist, geliebt und gesehen zu werden, ermöglichen ihr den Schritt heraus aus der Asche, aus der Zeit der Pubertät, dem Widerspruch zwischen innerem Potential und äußeren Möglichkeiten. Sie vertraut sich selbst und ihrer Intuition, sie fühlt, dass sie auf den Ball gehört und nicht in die Asche.
Es geht nichts Böses von Aschenputtel aus. Sie wehrt sich nicht, sondern sucht einen Ausweg, sie will auf dem Ball tanzen, sie ergreift die Initiative und nimmt teil am Konkurrenzkampf um den Posten der zukünftigen Königin. Etwas in ihr weiß, dass sie eine Chance hat, sie geht unbeirrbar ihren Weg. Und hat Erfolg, weil sie von Innen strahlt und nicht voller Eitelkeit auf Äußerliches fokussiert ist wie ihre Stiefschwestern.
Es ist ein Fest auch für uns Leser*innen, wenn Aschenputtel sich aus ihrer verachteten Position befreit, auf dem Ball tanzt und den Prinzen für sich gewinnt. Gib‘ niemals deine Träume auf, scheint uns das Märchen aufzufordern, auch du kannst scheinen und glänzen, hab‘ Vertrauen! Wir kennen das wunderbare Gefühl, zunächst im Abseits zu stehen und dann die Chance zu bekommen, gesehen zu werden. Und während die Stiefmutter auf Aschenputtels Bitte hin, auch auf den Ball gehen zu dürfen, ihr dreimal eine unmögliche Aufgabe (Sortieren der Hülsenfrüchte aus der Asche) stellt, sind es ihre Seelenhelfer, die Tauben und die innere Mutter, die ihr dies ermöglichen, nicht Anstrengung und Leistung. Die Hülsenfrüchte sortieren sich wie von selbst und die verstorbene Mutter, deren Seele im Haselbaum lebt, liefert was nötig ist, um dahin zu kommen, wo Liebe und Befreiung auf sie warten.
Warum nur läuft sie dem Prinzen nach dem Ball dreimal davon? Sie entkommt jedes Mal, springt beim ersten Mal ins Taubenhaus, hinten wieder heraus und eilt in die Küche an ihren Platz. So vermeidet sie den Neid der Stiefschwestern. Und der Prinz, der ihr gefolgt ist, lässt das Taubenhaus umholzen, aber finden kann er sie so nicht, das wäre zu einfach, er muss mehr, bzw. etwas anderes investieren, um seine Seelenverwandte wiederzufinden. Dass er ein Prinz ist, reicht nicht aus.
Er lässt sich also etwas einfallen und die Treppe mit Pech bestreichen, Aschenputtels Schuh bleibt daran kleben, aber was jetzt? Er muss im ganzen Land nach ihr suchen – mithilfe des Schuhs, der nur der Richtigen, der einen passt.
War Aschenputtel zuvor unsicher, ob der Prinz sie wirklich liebt? Oder wollte sie, dass er von ihr nicht nur den glanzvollen Auftritt sieht, sondern auch ihre Schattenseite, ihr Leben in der Asche, Symbol der Trauer und Vergänglichkeit?
Er muss sich bemühen, sie zu finden, über die Lumpen und ihre Schmach hinwegsehen und sich damit als würdig erweisen. Nur im Glanz seines Schlosses mit ihr zu tanzen hätte nicht genügt, er muss in die grauen Bereiche vordringen, wo seine Geliebte arm und schwach ist, und dennoch dieselbe ist, die ihn beeindruckt hat. Was wäre das auch für eine Liebe, die nur im Positiven verweilt? Die nur den Lifestyle kennt, der sich sehen lassen kann? Die Performances der Stiefschwestern waren gut, aber letztlich selbstzerstörerisch, sie verstümmeln ihre Füße, angestachelt von der statusbewussten Mutter, damit der Schuh passt.
Das Märchen von Aschenputtel lässt uns heilsam glauben, dass es sich lohnt, ein guter Mensch zu sein und dass die, die sich überlegen fühlen und andere unterdrücken, nicht ans Ziel kommen. Den Stiefschwestern hacken die Tauben am Ende die Augen aus, dadurch müssen sie zukünftig nach Innen schauen.
Lasst euch nicht entmutigen, scheint uns das Märchen zu sagen, wenn wir uns mal wieder – vor allem als Frauen – nicht gesehen, ausgegrenzt und missachtet fühlen, habt Vertrauen in euch selbst.
