Das Kind langweilte sich auf dem Spielplatz. Es wartete auf die große Schwester, die versprochen hatte, gleich nachzukommen. Aber sie kam nicht. Auch sonst war niemand in der Nähe zum Spielen. Menschen, die auf dem Bürgersteig und dem Platz vorbeigingen, beachteten es nicht.
Ein Mann näherte sich. Er strahlte etwas Sanftes aus und hatte tiefblaue Augen. Er sprach freundlich mit dem Kind und lud es zu einem Spaziergang ein. Seine Hand war warm und hielt das Kind drucklos fest.
Sie sprachen wenig. Das Kind hatte Vertrauen zu dem Mann, er wirkte jungenhaft, war schlank und freundlich. Sein Blick schien das Kind im Inneren zu berühren. Es war nicht mehr allein.
Der Spaziergang führte weit weg vom Spielplatz, und nach einer Weile sah das Kind das Siedlungshaus, in dem es wohnte, aus der Ferne und dachte: so viel Liebe spüre ich bei meinen Eltern nicht. Nicht so, wie an der Hand dieses Mannes.
Später im Wald nahm der Mann das Kind auf den Schoß. Als seine Hand sich auf seinen Oberschenkel legte und anfing, sich zu bewegen, durchfuhr das Kind ein heißer Schreck. Es sprang auf und rannte weg, Panik hatte es ergriffen. Es stand nach wenigen Metern vor einem hohen Zaun, und der Mann, der verhangen lächelte, kam mit langsamen Schritten hinterher, so als wäre er sicher, dass das Kind ihm nicht entkam.
In seiner Not hatte das Kind ungewohnte Kräfte und die Behändigkeit, den Zaun zu überwinden. Der Mann versuchte es nicht einmal. Das Kind rannte, so schnell es konnte, über eine große Wiese. In weiter Ferne sah es eine Frau mit einem Hund. Außer Atem konnte es dieser vermitteln, dass es in Gefahr war.
Die Frau fuhr das verängstigte Kind, das kaum sprechen konnte, nach Hause. Das Kind war 9 Jahre alt und kannte seine Adresse.
Zuhause rätselten die Eltern, was zu tun sei. Man rief die Polizei an. Die Eltern fuhren mit dem Kind zum Polizeipräsidium, dort musste es lange, sehr lange Fotos anschauen von Männern, die „auch so waren“. Das Kind war müde und deutete auf einen Mann, der könne es gewesen sein. Ob es sicher sei? Nein. Dann fuhr man nach Hause.
Es gab Abendessen. „Du hättest eigentlich nicht in das Auto zu der fremden Frau einsteigen dürfen, die dich nach Hause gebracht hat“, sagte der Vater zum Kind. Das verstand das Kind nicht. Was hätte es tun sollen?
Später sagte der Vater dem Kind Gute Nacht. „Du solltest deine Spardose zur Sparkasse tragen und das Geld spenden, weil der liebe Gott dich gerettet hat“, sagt er zum Kind. Das Kind verstand das nicht und wollte seine Spargroschen nicht hergeben.
Was zählt, ist, dass ich überlebt habe, dachte sie immer wieder mal in den Jahren danach. Wie soll man so etwas verarbeiten? Was heißt „verarbeiten“? Was hatte das für seelische Spuren hinterlassen? Sie fand keine Antworten.
Als erwachsene Frau saß sie vor einer Therapeutin, die ihr zu der Frage, ob sie in der Ehe bleiben solle oder nicht, eine Phantasiereise anbot.
Im Kopf der Frau entspann sich nun eine Art von Märchen:
Sie war ein Mädchen, das in ein unbewohntes Haus kam. Sie suchte nach etwas. Eine Katze schien ihr helfen zu wollen und führte sie zu einem großen, aufgeschlagenen Buch auf einem kleinen Tisch. Das Mädchen schaute in das Buch und las: „Ich werde dich töten, aber noch nicht jetzt“.
Wieder zurück im Wachzustand wusste die Frau sofort, dass es sich um die Entführung als Kind handelte. Sie war tatsächlich dem Tod entronnen. Für einen Moment empfand sie Angst. Vielleicht eher Schrecken. Wie hatte es sich wie Liebe anfühlen und so bedrohlich sein können? Die Liebessehnsucht des Mannes konnte sie immer noch spüren. Sie hatte zu viel vertraut, und danach immer wieder.
Sie hatte überlebt.
Später hat sie sich oft gefragt, wie viel von ihrem Leben Überleben war und wie viel Leben. Und ob sie das überhaupt merken konnte.