Ein Märchen der Gebrüder Grimm
Sie soll verheiratet werden, aber wer will sie schon haben, die kluge Else? Nur Hans, er kommt von weit her, er will eine gescheite Frau. Man isst und trinkt zusammen, Hans, Else und ihre Eltern. Als Else Bier im Keller zapfen soll, sieht sie eine Kreuzaxt unter der Decke hängen, überlegt, dass die auf ihr Kind fallen könnte, wenn sie Hans heiratet, mit ihm ein Kind bekommt, und es in den Keller schickt, um Bier zu zapfen. Bei der Vorstellung weint und schreit sie herzzerreißend. Erst wird die Magd, dann der Knecht in den Keller geschickt, um nachzusehen, wo Else bleibt, dann folgt die Mutter, dann der Vater, alle weinen bei dem Gedanken mit, und zuletzt folgt Hans. Der nimmt Else an der Hand und meint, sie wäre klug genug für seinen Haushalt, und er hält Hochzeit mit ihr.
Es hat für Else nicht funktioniert, die Heirat durch ein inszeniertes Drama zu verhindern. Alle weinen mit Else über das zu erwartende Unglück, das nur verhindert werden kann, indem Else Hans, diesen einfachen Kerl aus der Ferne, nicht heiratet und kein Kind bekommt. Aber Hans will eine gescheite Frau, er braucht sie für seinen Haushalt, er nimmt sie, was solls. Es scheint ein irrwitziges Drama zu sein, das Else da erfindet, aber alle steigen ein in die Geschichte, sie ahnen, dass die Heirat Unglück bringen wird.
Die arme Else, sie hatte keine Wahl. Kluge Frauen sind auf dem Heiratsmarkt nicht gefragt, was nutzt es denn dem Mann. Hätte sie zu ihrem Vater sagen können, hör zu, ich will Hans nicht heiraten, ich will keine Hausfrau sein und auf dem Feld arbeiten? Der Vater hätte ihr vor Augen gehalten, dass sie froh sein kann, dass einer sie will, denn sie wolle doch ein normales Leben führen und später mal versorgt sein, das gehöre sich so.
Else kann sich mit ihrer Rolle als Hausfrau und fleißige Arbeiterin nicht identifizieren. Das Märchen beschreibt dies, indem Else auf dem Feld, wo sie Korn schneiden soll (das hat Hans ihr angeschafft, Männer haben nun mal das Sagen), erst isst, dann schläft, und es schließlich zum Verlust ihres Identitätsgefühls kommt. Denn Hans schaut am Abend nach ihr, findet Else schlafend im Korn und hängt ihr „Vogelgarn mit Schellen“ um.
(In einer Version des Märchens heißt es, Hans tue dies, damit Else merkt, dass sie noch da ist, wenn sie im Dunkeln erwacht. Er meint es gut und kann sich nicht vorstellen, dass man von innen heraus weiß, dass man da ist bzw. wer man ist und nicht durch Arbeit und vorgegebene Rollen.)
Else wacht auf, will heimgehen, aber es rappelt bei jedem Schritt, sodass sie zweifelt, ob sie die kluge Else ist. Sie klopft daheim an, fragt, ob Else daheim sei, Hans antwortet, ja, sie sei drinnen. Warum er das sagt, erfahren wir nicht, will er sie loswerden? Sie klopft an weitere Türen, keiner macht ihr auf, um ihre Identität zu bestätigen. Sie hat keinen Platz in diesem Dorf unter diesen Leuten. So geht sie aus dem Dorf hinaus „und ward nicht mehr gesehen“.
Arme Else! Das Ende der Geschichte, die Tragik, hat mich von jeher sehr beeindruckt.
Mich erinnert diese Geschichte an begabte oder hochbegabte Patientinnen (und Patienten). Sie haben es oft schwer, Partner zu finden sowie Sinn im Leben, ein Identitätsgefühl und einen Platz in der Gesellschaft. Sie halten sich für dumm, weil sie einfache Aufgaben oder Routinearbeiten nicht erledigen können und weil sie irgendwie anders sind bzw. denken. Sie sitzen in Therapiestunden vor mir und fragen „wer bin ich?“. Sich mit dem anders sein zu orientieren, ist schwer. Vor allem, weil sie über Gegebenes hinaus denken.
„Eins und eins ist zwei“, schreiben die Kinder in ihr Heft, und das ist dann so. Das ist real, das steht fest. Für ein begabtes Kind ist das ein Anlass, zu überlegen: ein Wassertropfen und ein Wassertropfen ist doch immer noch ein Wassertropfen?
Manche begabte Menschen müssen alles bedenken, was passieren könnte und kommen schwer ins Handeln. Manche halten sich für Aliens von einem anderen Stern, weil sie anders denken, kreativer, auf andere Ideen kommen, manches einfach wissen oder erspüren, weil sie einfache Aufgaben nicht hinkriegen, gelangweilt oder blockiert reagieren. Was hilft?
Die klugen Elsen von heute dürfen zum Glück ihre Begabungen entfalten, können Männer finden, die sie schätzen, für sich „Verantwortungsgemeinschaften“ und weibliche Netzwerke finden und sich aus patriarchalischen Mustern lösen. Vor allem aus den inneren. Zur Not können sie sich eine Coachin oder Therapeutin suchen, die ihnen hilft, ihren ganz eigenen Weg zu finden, zusammen mit anderen.
sehr schön, so habe ich das noch nie gesehen. Als Kind fand ich die Geschichte nur befremdlich und die Else gefiel mir gar nicht, und am Ende tat sie mir schrecklich leid.Mit dieser neuen(Freitags) Sichtweise erschließt sich, dass man vor ein paar Jahrhunderten die besonderen Menschen zwar beschreiben konnte, dass ihre Sensibilität aber nicht willkommen war. Und wir werden zum Nachdenken gebracht, ob wir auch heute noch den etwas anders denkenden (intensiver und weiter denkenden) Menschen immer gerecht werden.