Eine Freundin erzählte mir neulich, sie habe einen Mann kennengelernt, mit dem sie ganz wunderbar übereinstimme, das Zusammensein mit ihm fühle sich leicht und sinnlich an, aber sie leide darunter, dass er sich nicht binden wolle.
Ihre Schilderung erinnert mich an das Märchen von der Kleinen Meerjungfrau von H. C. Andersen, dem eine persönliche Tragik des Autors zu Grunde liegt. Der Mann, den er liebte, heiratete eine Frau, und er konnte (besonders als Adliger) nicht über seine Gefühle sprechen, er musste stumm bleiben, wie die Meerjungfrau in dem Märchen, das er nach diesem Verlust schrieb. Er erzählt darin ausführlich von einer wunderschönen, sinnlichen, mit Farben und Leichtigkeit durchfluteten Unterwasserwelt und der unstillbaren Sehnsucht der kleinen Meerjungfrau nach Menschwerdung, Unsterblichkeit und Liebe.
„Warum bekamen wir keine unsterbliche Seele?“ fragt die kleine Seejungfer ihre Großmutter betrübt, „ich wollte alle meine hundert Jahre, die ich zu leben habe, dafür hingeben, einen Tag ein Mensch zu sein und Teil zu haben an der himmlischen Welt!“
„Nur wenn ein Mensch dich so lieb gewinnt, dass du für ihn mehr wirst als Vater und Mutter…“, bekommt sie zur Antwort. „Er gäbe dir eine Seele und behielte doch die eigene.“
Die kleine Meerjungfrau, Jüngste von fünf Schwestern, darf mit 15 Jahren hinaufsteigen und die Menschenwelt besuchen, wonach sie sich schon lange intensiv gesehnt hat. Sie verliebt sich, als es endlich so weit ist, in einen Prinzen, sie rettet ihn nach seinem Schiffbruch, kann auf ihr verzweifeltes Drängen bei der Meerhexe Beine bekommen, um zu ihm zu kommen, muss aber ihre Stimme dafür hergeben. Wenn sie seine Liebe nicht erringt, muss sie sterben und zu Meerschaum werden.
Der Prinz nimmt sie bei sich auf und hat sie lieb, heiratet aber eine Prinzessin, von der er glaubt, sie habe ihn beim Schiffbruch gerettet. Sie ist in seinen Gedanken, nicht die kleine Meerjungfrau, die es somit nicht geschafft hat, seine Liebe zu erringen, die nun sterben und zu Meeresschaum werden muss.
Ihre Schwestern aber haben eine Gnade erwirkt, es gibt noch eine Wahl:
„Er oder du musst sterben, bevor die Sonne aufgeht. (…) Töte den Prinzen und komm zurück!“, rufen sie flehentlich. Sie geben ihr ein Messer, um die Tat zu vollbringen.
Die kleine Meerjungfrau liebt den Prinzen jedoch zu sehr, nimmt Abschied von ihm und seiner Braut und wählt den eigenen Tod.
Aber nach dem Sturz in die Meereswogen ist sie nicht tot, sie begegnet den Töchtern der Luft. Diese haben auch keine unsterbliche Seele, aber sie können sich durch gute Taten selbst eine schaffen. Das dauert dreihundert Jahre, aber wenn sie gute, liebenswerte Kinder finden und darüber lächeln, wird diese Zeit um ein Jahr verkürzt.
Ich stelle mir vor, dass dieses Ende der Geschichte ein Trost für Andersen war, der nicht die eine unsterbliche Liebe erringen konnte und stumm bleiben musste, der aber durch seine Märchen unsterblich werden konnte.
Für meine Freundin ist der Konflikt zwischen dem Wunsch nach der leichten, sinnlich-schönen Unterwasserwelt und der Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, die auch ein Scheitern beinhalten kann, noch ungelöst. Sie schildert mir immer wieder, wie schön es mit dem neuen Mann sei. Ich verstehe sie gut: Sie sehnt sich nach einer Liebe, die andauert, und gleichzeitig es ist für sie zu schmerzhaft, ihn aufzugeben, auch wenn auf ein Wochenende mit ihm die Traurigkeit des Alleinseins folgt.
Vermutlich wird es wieder so ausgehen wie beim vorherigen Mann, der sich nicht binden wollte, sie wird nach einiger Zeit die Hoffnung auf eine partnerschaftliche Liebe mit ihm enttäuscht aufgeben.
Ich wünsche ihr, dass sie sich traut, ihrer Sehnsucht zu folgen. Dass sie ein kleines Stück Unsterblichkeit erlebt, die zwischen zwei Seelen entstehen kann, wie das, was sich auch die kleine Meerjungfrau gewünscht hat. Und dass sie Erfüllung auch in dem findet, was sie Gutes tut.