Ärger überwinden

Gestern in einem kleinen Kosmetikladen ließ mich die Verkäuferin plötzlich stehen und bediente eine andere Kundin an der Kasse. Auf dem kurzen Weg zu mir zurück wurde sie von einer Kollegin etwas gefragt, sie hielt inne und wendete sich deren Kundin zu. Ich schüttelte innerlich den Kopf. Echt jetzt? Ärgern wollte ich mich deswegen nicht. Sollte ich einfach gehen? Ich muss mich nur fügen, dachte ich, es hinnehmen, dass ich zurückgesetzt werde. Ist das schlimm, kratzt das an meinem Selbstbewusstsein, fällt mir eine Zacke aus der Krone? Nein. Ich wartete, bis die Verkäuferin für mich Zeit hatte. Na also, scheinbar habe ich Fortschritte gemacht auf dem Weg zum inneren Frieden, dachte ich…

Zu früh gefreut. Am Nachmittag stand ich in einer Warteschlange. Ich sprach eine ältere Frau vor mir freundlich an, nur so, aus Langeweile. Sie zuckte mit der Schulter und drehte sich weg. Ärger köchelte in mir hoch. Ich wollte mich nicht ärgern, das war es doch nicht wert! Ich werde nie wieder ältere Frauen ansprechen, versprach ich mir. Wie lächerlich, undurchführbar und dumm. Ich lenkte mich ab und dachte an etwas anderes, schaute herum und bemerkte Moos an den Ästen der Bäume. Netter Versuch, der Ärger drückte weiterhin nach oben in meinen Kopf und löste Grübeln aus. Was manche  Leute sich erlaubten! Diese Person hatte mich wehrlos gemacht.

Später schrieb mir eine Freundin über eine eigene Erfahrung mit Ärger und dem Gefühl, Opfer geworden zu sein, dass sie die andere Person und ihr eigenes Gefühl dann segne. Das konnte ich mir in meinem aktuellen Fall nicht vorstellen, das schaffte ich nicht. Ich musste einen anderen Weg finden, damit innerlich in Frieden zu kommen. Es braucht scheinbar für jede Person ein anderes Rezept, um mit Ärger klarzukommen. Und es sind jeweils andere Auslöser, die Ärger auslösen. Dass man sich an der Supermarktkasse bedrängt fühlt zum Beispiel.

Beim Spaziergang einen Tag später erzählte ich den Vorfall meiner Freundin Lisa, die gut zuhören kann und nicht in meine Entrüstung einsteigt. Was genau hat mich eigentlich getroffen?
Die Gestik, die Mimik und das Wortlose. Das hatte mich wehrlos gemacht, ich musste die Zurückweisung hinnehmen und hatte innerlich aufbegehrt. Wie gut ich das kannte! Meine Großmutter hatte mich manchmal so zum Schweigen gebracht, indem sie wegschaute und eine abfällige Handbewegung machte. Erst jetzt, mit dem Verstehen der Situation als Wiederholung, beruhigte sich mein Ärger.

Erstaunt stellte ich später am Abend fest, dass ich mich nicht nur über die fremde Person geärgert hatte, die mich wehrlos gemacht hatte.
Ich hatte mir zusätzlich verübelt, dass ich nicht drüberstehen konnte. Ich war sauer auf mich, weil es mir etwas ausmachte, ich wollte den Ärger weghaben. Ich wollte nicht zulassen, dass jemand daher kam, Ärger und Unfrieden in mir auslöste, und ich nichts dagegen tun konnte!
Aber der Rückschluss auf meine Erfahrung als Kind half mir, mich zu verstehen und meine Reaktion in einem anderen Kontext zu sehen.
Mag das verstehen, wer will, aber alte Verletzungen wirken weiter bis ins Jetzt.
 

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