Martina, die Fahrstuhlangst und der Ausstieg aus der Enge

Wir haben am Anfang beide angenommen, dass wir in kürzester Zeit ihre Fahrstuhlangst erfolgreich behandeln könnten. Martina wohnt in einem Haus mit vielen Stockwerken, und der Fahrstuhl fällt manchmal aus. Dann muss sie zähneknirschend, egal wie viele Einkaufstaschen sie in der Hand hat, zum 6. Stock hinauflaufen.

Aber weit gefehlt, wir haben zwar am Anfang ein EMDR gemacht, eine Methode, die fast immer hilft, blockierende Überzeugungen zu überwinden, aber Martina konnte den Fahrstuhl nach wie vor nicht benutzen, und andere Themen schoben sich in den Vordergrund.

Nachdem nun – viele Sitzungen später – der Fahrstuhl erneut das Thema ist, und Martina mehr innere Selbständigkeit und Sicherheit erreicht hat, staune ich, wie ihre Angst sich jetzt entlarven lässt und der Hintergrund verständlich wird:

Martina schließt die Augen. Es gelingt ihr ganz gut, sich zu entspannen. Dann stellt sie sich vor, dass sie vor dem Fahrstuhl steht, und bekommt ein Gefühl der Enge am Hals, so als ob jemand sie würgen würde. Dieser Jemand drückt sie in den Fahrstuhl hinein, sie wehrt sich nicht. Es ist dort stickig und eng, der Schatten steht neben ihr, und sie weiß, dass er über sie bestimmt, seine Ausstrahlung ist eindeutig.

„Wenn ich wegrücke, rückt er nach“, stellt Martina fest. „Ich fühle mich nicht bedroht, aber mir ist mulmig. Die Person neben mir bestimmt, was ich mache, und er hat jetzt den Knopf in den 4. Stock gedrückt… aber ich möchte raus!“ Das klingt hilflos.
Ich frage einfach mal nach, in welchem Stockwerk sie denn aussteigen möchte.
„Ich möchte in den 3. Stock aber ich kann nichts tun!“  
„Sie können doch auf Stopp drücken“, behaupte ich spontan, „das geht!“

Martina drückt auf „Stopp“. Sie rückt von der Person weg, und er kommt zu ihrem Erstaunen nicht nach. Sie steigt im 3. Stock aus. „Wenn er mir nachkommt, stelle ich mich ganz nah vor seine Nase und sage: „Mit mir nicht mehr!“ Sie atmet auf.
Nach einer Weile öffnet Martina die Augen und schaut mich fragend an.

„War das mein Vater?“, fragt sie unsicher. Ihr Vater hatte ein Geschäft und die ganze Familie war eingespannt gewesen.
„Hat es sich am Anfang so angefühlt, dieser Schatten, das Dunkle und Kontrollierende?“ frage ich zurück.
„Ja, und dann hat mein Ex-Mann das Bestimmen und Kontrollieren übernommen“.
 
Ob sie jetzt mit dem Fahrstuhl fahren könne? will Martina wissen. Und bevor ich antworten kann, sagt sie: „Ach egal! Ich bin in den 3. Stock gefahren, wo ich hinwollte, und ich habe mich aus der Enge befreit. Ich lasse mich nicht mehr von außen bestimmen.“ Ihre braunen Augen leuchten ein bisschen.
Als nächstes möchte sie probieren, mit der S-Bahn in die Stadt zu fahren. Vielleicht werde sie ihre Familie  besuchen, was lange nicht ging. Aber erst, wenn sie das möchte.  

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