Das Märchen von Dornröschen ist eine Vater-Tochter-Geschichte und erzählt von einer scheinbar perfekten Familie:
Die Königin nimmt ein Bad, als ein Frosch herankriecht und ihr weissagt, dass sie in einem Jahr endlich das von ihr und dem König heiß ersehnte Kind zur Welt bringen wird. Und tatsächlich wird – wie vorhergesagt – nach einem Jahr ein Mädchen geboren, das so schön ist, dass der König sich nicht zu fassen weiß und vor Begeisterung ein großes Fest veranstaltet. Er lädt viele Gäste ein, auch die weisen Frauen im Land, damit sie dem Kind gewogen seien.
Es gibt dreizehn von ihnen im Land, das weiß er, aber er hat nur zwölf goldene Teller, und so muss eine daheim bleiben.
Das kann nicht gutgehen. Als ob man über jemanden einfach hinweggehen kann, ohne eine Begründung zu nennen oder eine Lösung zu suchen. Auf diese Weise nimmt er hin, dass die ausgeschlossene Person sich massiv gekränkt fühlt.
Dieser Vater will das Beste für sein Kind, er ist stolz und glücklich, dass es geboren wurde, vernarrt in seine Schönheit, fixiert auf die Erfüllung seines Wunsches, endlich Vater zu sein, aber er handelt ohne Empathie, er benutzt die weisen Frauen, deren Wunschkraft dem Kind zugutekommen soll.
Er lädt zwölf ein und dennoch kommt das Böse, die dreizehnte, von jeher eine Unglückszahl, plötzlich ungefragt herein. Die dreizehnte ist nicht anders als die anderen, bis sie ausgeschlossen wird, dann wird sie böse und will sich rächen. Wie im Märchen von Schneewittchen erfahren wir, dass Kränkungswut tödlich sein kann. Wehe dem, der gemobbt und ausgeschlossen wird, das lähmt, macht hilflos und krank oder aber destruktiv, bis hin zu Vernichtungswünschen und schlimmstenfalls zum Amoklauf.
Das Fest wird mit aller Pracht gefeiert. Nachdem elf der weisen Frauen dem Kind ihre Wundergaben wie Schönheit, Reichtum und Vieles mehr geschenkt haben, poltert die Ausgeschlossene herein und inszeniert ihre Rache in einer einzigen lauten, heftigen Verwünschung: im fünfzehnten Lebensjahr soll das Kind sich an einer Spindel stechen und tot umfallen. Was für ein Schock! Die zwölfte kann den Spruch nur noch mildern und wandelt den Tod in einen hundertjährigen Schlaf um.
Der König lässt sofort alle Spindeln im Land verbrennen, so als könnte er damit die Verwünschung aufhalten. Er hätte die dreizehnte einladen und mit ihr verhandeln können, damit sie die Verwünschung zurücknimmt. Aber er ist der Herrscher, er denkt, er hat die perfekte Lösung und auch über das Schicksalhafte Macht. Er unterschätzt die weisen Frauen, die ein Teil des Schicksals seiner Tochter sind, alle dreizehn.
In manchen lateinamerikanischen Ländern wird der 15. Geburtstag von Mädchen besonders gefeiert, das Fest heißt „Quinceañera“, das bedeutet „die Fünfzehnjährige“. Damit wird der Beginn einer neuen Phase markiert: die Tochter wird nun den Eltern entwachsen, sie wird Neugier, Lebenshunger, ihre Sexualität und Freiheitswünsche entwickeln und wahrscheinlich die elterlichen Normen durchbrechen.
Das Mädchen, das später Dornröschen genannt wird, wird so schön, klug, freundlich und beliebt, wie die weisen Frauen es ihm gewünscht haben. Aber der Vater hatte eine von ihnen ausgeschlossen, und damit das, was über die Einheit der Familie und das, was über den Rahmen der Zwölf hinausgeht. In der Bibel sind es zwölf Apostel, die zu Jesus gehören. Unsere Zeitmessung zählt 12 Monate – aber auch dabei passen ein paar Tage nicht in das Jahr hinein, das alte vergeht und das neue ist noch nicht da, es sind die „Tage zwischen den Jahren“, eine Ruhepause.
Mit fünfzehn Jahren nun ist das Mädchen eines Tages allein zu Hause, es steigt aus Neugier in einen alten Turm hinauf bis in die Dachkammer, dort findet es eine alte Frau, die Flachs spinnt, es will es auch probieren, sticht sich in den Finger, fällt sogleich auf ein Bett und in einen tiefen Schlaf, und alles und jeder im Schloss schläft ein, nichts bewegt sich mehr (die Eltern waren gerade heimgekommen und schlafen nun auch). Eine Dornenhecke wächst mit der Zeit hoch und um das Schloss herum, bis nichts mehr davon zu sehen ist, nicht einmal die Fahne auf dem Dach.
Das Mädchen, Dornröschen, hatte neue Räume im Schloss erkunden wollen, es war neugierig und wollte etwas Neues ausprobieren, was es zuvor nicht kennenlernen durfte, es gab ja keine Spindeln im Land. Sie wuchs in Überbehütung auf, und genau das, was die Eltern verhindern wollten, passiert, und indem alles einschläft und stillsteht, ist nun alle Lebendigkeit aus diesem Elternhaus entwichen, jede Handlung und jede Erfahrung ist unmöglich geworden.
Dornröschen, wie es jetzt im Dorf genannt wird, eingeschlossen im Schloss unter der Dornenhecke, wird zur Legende, viele Freier wollen durch die Dornenhecke zu ihr durchdringen und schaffen es nicht. Die hundert Jahre müssen erst vergehen, in dieser Zeit findet keine Alterung statt, ein zeitloser Zustand ist eingetreten. Dornröschen liegt getrennt von ihrer Familie auf dem Bett in der Dachkammer. Auch der liebende, mächtige König hat keinen Einfluss mehr.
Steht das Stechen mit der Spindel für eine erste, ungewollte sexuelle Erfahrung? Und die dreizehnte weise Frau für eine letztlich notwendige Warnung, als Heranwachsende auf der Hut zu sein, sich nicht aus Neugier in eine solche Gefahr zu begeben? Dann ist die Konsequenz, der Stillstand im Märchen, dieses im Schloss verborgen und halbtot sein, vor allem die Zeitlosigkeit dieses Zustandes, typisch für ein erlebtes Trauma.
Dann sind auch der Turm, die Dachkammer und die alte Frau, die den Faden des Schicksals spinnt, symbolische Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis. Sie versinnbildlichen eine typische Szene: eine junge Frau, arglos, überbehütet und neugierig, wird schon bei der Geburt durch den Stolz, das Schutzbedürfnis und die Vereinnahmung durch den Vater und ebenso durch gesellschaftliche Strukturen daran gehindert, sich frei zu entfalten, mit einer realistischen Anleitung und mit einer guten Rückendeckung eigene Erfahrungen zu machen. Sie bekommt keinen verlässlichen Schutz vor traumatischen Erfahrungen. Alles soll nur gut sein.
Dornröschen ist einerseits verwöhnt, andererseits abgeschottet, einerseits wird es hofiert, andererseits nicht als Person wahrgenommen. Der Vater bereitet sie nicht auf das Leben und seine Gefahren vor, er erklärt ihr nicht, wie man es anstellt, sich nicht an einer Spindel zu stechen. Er will es mit seiner Macht und einer einfachen Lösung verhindern. Er ist der Mittelpunkt der Familie und damit für die Tochter, er will das nicht hergeben, aber eigentlich weiß er, dass er durch einen anderen, jüngeren Mann ersetzt werden wird.
Dieser Vater hat mithilfe der weisen Frauen dafür gesorgt, dass seine Wünsche, wie das Kind sein soll, nämlich in jeder Hinsicht positiv und perfekt, sich erfüllen, es sollte keinen Schatten geben. Risiken werden beseitigt (Spindeln) und Negatives abgewehrt. Das Kind lernt die Welt außerhalb vom Schloss, dem zu Hause der Familie, vermutlich gar nicht kennen. Der Rückzug ins Schloss, dem trauten Heim, wo man es schön hat, dient dem Ausschließen von allem Negativen, und daran soll sich auch nichts ändern! Alles ist super und soll auch so bleiben.
Wie gut wir das kennen, wie unermüdlich werden wir zu positivem Denken auf Plattformen wie Instagram und von einem Heer von Coaches dazu aufgerufen, wie selten lädt man uns ein, tiefere, konflikthafte, ängstliche Gefühle zuzulassen und hilft uns, damit umzugehen. Man vermittelt uns Techniken und Mantras. Wie Dornröschen, das glänzen und nicht negativ auffallen soll, und vor allem soll die Tatsache der Vergänglichkeit und unserer Sterblichkeit ausgeschlossen bleiben.
Da das Stechen mit der Spindel und das in den Schlaf fallen im Turm vom Schloss, also im Elternhaus passiert, kann man sich fragen: war es der in ihre Schönheit vernarrte Vater, der sich an ihr vergriffen hat, und fällt sie deshalb in einen zeitlosen, traumatischen Zustand? Dann wäre auch das Zuwachsen mit der Hecke ein passendes Bild für die unbedingte Geheimhaltung. Familiengeheimnisse wirken unbewusst auf alle lähmend.
Ich kenne aus Therapien solche Schicksale von Frauen, die sich nicht selten erst nach Jahrzehnten an sexuellen Missbrauch in oder im Umfeld der Familie erinnern. Es darf über diese Übergriffe in der Familie nicht gesprochen werden, sie würde zerbrechen. Diese Erlebnisse bleiben zeitlos im emotionalen Gedächtnis eingeschlossen, bis genug Zeit vergangen und etwas im Stillen gereift ist.
Jede Entwicklung, die zu mehr Eigenständigkeit führen würde, ist in Dornröschens Familie gelähmt. Es findet keine natürliche, notwendigerweise konflikthafte Ablösung statt. Dornröschen soll für immer das Ein und Alles ihres Vaters und Teil einer traumhaft perfekten Familie bleiben. Sie soll nicht zur Frau werden. Und sie soll den Vater nicht verlassen.
Nach hundert Jahren gewährt die Hecke einem Prinzen Zutritt, die Abwehr der Dornen verschwindet und verwandelt sich in Rosen, Liebe wird möglich. Er dringt zu Dornröschen vor, holt sie aus dem halbtoten Zustand und dem Schloss raus. Manche junge Frau heiratet so schnell wie möglich, um dem Elternhaus zu entfliehen. Damit ist sie wieder lebendig und – erst einmal – gerettet.
Ob sie nach der Hochzeit, auf lange Sicht, ihre eigene Sexualität und selbstbestimmte Weiblichkeit entfalten kann? Oder wird sie erneut ihre Lebendigkeit verlieren?
In dieser Interpretation von dem Märchen DORNRÖSCHEN erkenne ich mich und meine Familie wieder…..
Auf diese Frage “Ob sie nach der Hochzeit, auf lange Sicht, ihre eigene Sexualität und selbstbestimmte Weiblichkeit entfalten kann?” möchte ich antworten: NEIN, leider nicht. Erst als es fast zu spät ist, als ältere Frau, die im Inneren immer noch ein Kind ist, sich nicht zu einer reifen Frau entwickeln konnte…….