Nico und die Angst

Wir haben in der Therapie schon einige Male über Nicos Angst vor anderen Menschen gesprochen, aber bewältigt hat er sie noch nicht. Genauer gesagt: In manchen Situationen hat sie nachgelassen, er geht jetzt mittags mit Kollegen in die Kantine, aber in einer aktuellen Situation wurde sie wieder ausgelöst. Ich glaube, wir waren beide etwas frustriert davon, dass wir mit seiner sozialen Angst nicht recht vorwärts kamen.
Erst in der heutigen Stunde habe ich wirklich verstanden, warum die Angst für ihn so schlimm war und dass ein Dilemma dahintersteckte, ein Sackgassenproblem, ein nicht wollen können. Klingt verzwickt, war es auch.

Nico hatte mir erzählt, dass in die Wohnung gegenüber ein neuer Nachbar eingezogen sei, ein Mann in seinem Alter, Mitte 30, er sei sympathisch und um Kontakt bemüht. Das genüge schon, damit er ängstlich reagiere. Wenn sie sich im Haus flüchtig begegneten, fielen im Vorübergehen meist ein paar nette Worte.
Von Nico weiß ich, dass er zurückgezogen lebt, seine Freundin nur am Wochenende sieht und es genießt, am Abend allein und ungestört zu sein.  
Klaus, der neue Nachbar, habe neulich bei ihm geklingelt und gefragt, ob sie ein Bier zusammen trinken wollen, und ob Nico Fußball schaue? Das habe ihn kalt erwischt, und aus lauter Verlegenheit habe er genickt. Aber heute passe es ihm nicht, habe er gerade noch rausgebracht. Er habe die Tür schnell wieder zugemacht, das habe bestimmt unhöflich gewirkt und sei peinlich gewesen!

Seitdem habe er Angst, dass Klaus wieder klingeln könnte. Er wisse nicht, wie er in so einer Situation Nein sagen könne. Er denke immer wieder darüber nach, und dann gehe es ihm schlecht.
Er will Klaus nicht das Gefühl geben, dass er ihn ablehne, eine Zurückweisung könnte ihn verletzen. Und eigentlich wolle er den netten Kontakt nicht verlieren. Er wolle sich nicht wie ein komischer Kauz fühlen. Der andere solle nicht denken, was ist denn das für einer.
Aber wenn er einmal Ja sage und sich jemand mit ihm anfreunden wollte, habe er das nicht mehr unter Kontrolle, es könnte ausufern. Klaus könnte immer mehr Kontakt wollen. Dann werde es immer schwieriger, Nein zu sagen. Ganz schön verzwickt, denke ich, und blicke nicht mehr so recht durch.

Nachdem mir deutlich wurde, dass meine Vorschläge, Klaus auf seine Frage, den Abend zusammen zu verbringen, etwas zu entgegnen wie „das ist nicht so meins“ oder „nichts für ungut, aber ich habe abends immer noch zu tun“ oder etwas Ähnliches nichts an der Panik von Nico änderten, versuchte ich mich nochmal neu und tiefer in Nicos Dilemma reinzudenken. Was löste denn nun die quälende Angst und die Hilflosigkeitsgefühle aus, in denen Nico feststeckte?
Mir fiel eine Situation ein, die mir half, die Intensität und den Hintergrund der leidvollen inneren Blockade von Nico besser zu verstehen: Ich erinnerte mich an ein ähnliches Ja-Nein-Erlebnis auf einer Reise, wo ich den Konflikt zwischen dem Wunsch nach Kontakt zu einem Mann und die Angst davor nicht auflösen konnte. Es fühlte sich an wie innerlich gefangen. Es war wohl genau dieses „zwischen Baum und Borke“ sein, das Nico zu schaffen machte. Ja oder Nein? Jein, haben Fanta 4 mal gesungen.
Ich versuchte also,  meine widersprüchlichen Gefühle von damals in Worte zu fassen, insbesondere den angstvoll abgewehrten Wunsch nach Kontakt.


Nico kamen die Tränen, seine Traurigkeit schien schmerzhaft tief zu gehen.
Er verstand jetzt, dass er sich gefangen fühlte zwischen dem unterdrückten Wunsch nach Kontakt und der Angst davor, dass es ihm zu viel wurde. Er war seit seiner Kindheit gewohnt, allein zu sein. Den Wunsch nach Zuwendung, Kontakt und Freundschaft konnte er nicht mehr zulassen, aber er war da.
Lebhafte Erinnerungen tauchten nun auf, wie er damals, vor allem in der Schule, nach peinlichen Erlebnissen immer mehr zum Außenseiter geworden war und schließlich die meiste Zeit in seinem Zimmer verbracht hatte, wo er sich sicher fühlte. Seine Eltern seien erst abends nach Hause gekommen, ihnen sei es nicht aufgefallen, und sie wollten ihre Ruhe haben. Er habe sich immer mehr zurückgezogen und dafür gesorgt, dass ihm niemand mehr zu nahe kam. Und eine Zurückweisung in Kauf zu nehmen, kam sowieso nicht infrage.

Bisher hatte mir Nico sein Problem mit der Annäherung von anderen so geschildert, als müssten wir, am besten ich, eine Art von Zauberspruch finden, mit dem er Menschen wie Klaus von sich fernhalten könne, ohne dass es zu ablehnend wirkte. Das nicht hinzubekommen, löste Anspannung und Grübeln bei Nico aus. Es erschien ihm ausweglos, und ich hatte mich so hilflos gefühlt wie er.
Jetzt aber, als der Wunsch nach Kontakt fühlbar wurde, löste sich innerlich ein Knoten. Ich konnte ihm ansehen, wie schmerzhaft es für ihn war zu spüren, wie sehr er Kontakt und Zuwendung vermisst und ersehnt hatte.  Der Wunsch und die Angst waren eigentlich gleich stark gewesen, wie zwei Kräfte, die gegeneinander wirkten und ihn innerlich in der Zange gehabt hatten. Zu groß war die Angst gewesen, wieder verletzt oder beschämt zu werden. Zu viele schlechte Erfahrungen – vor allem aus der Schulzeit – hatten zum Rückzug ins Alleinsein geführt.

Plakatausschnitt von Blade Runner 2045

Der Schmerz, den er jetzt spürte, und mit dem er in diesem Moment nicht allein war, war schwer für ihn auszuhalten, aber es tat auch gut, dass er da sein durfte.
Nico wirkte nach einer Weile erschöpft und erleichtert. Und ich dachte daran, was ich mal von einem Regisseur in einem Interview gelesen hatte: Der Schmerzpunkt muss auf die Bühne, sonst taugt das ganze Stück nichts. Ich freute mich, dass Nicos Herz für den Wunsch nach Kontakt nun offener war.
Wie es weitergehen würde mit ihm und Klaus, war noch unklar und würde uns noch beschäftigen. Leicht würde es nicht werden, aber leichter als bisher.

2 Kommentare zu „Nico und die Angst

  1. Sehr überzeugend und berührend wird ein Therapie-Prozess uns nahegebracht.
    Als Leserin erlebe ich, wie die Therapeutin ihr eigenes Erleben einbezieht, um sich in den Patienten einzufühlen und ihn dadurch auf einer tieferen Ebene zu verstehen und dadurch einen Ausweg aus seinem Dilemma zu finden.

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