Entweder-Oder

Karin ist 36 Jahre alt und kommt erneut in die therapeutische Sprechstunde,
um einen Konflikt zu besprechen, der ihr schlaflose Nächte bereitet.

„Will ich oder will ich nicht?“ fragt sie sich.
Jens und sie haben sich kürzlich in der Techno-Szene kennengelernt. Es sei so wunderbar mit ihm, so harmonisch, leicht und schön! Aber eigentlich wünsche sie sich eine feste Beziehung, und er wolle sich nicht binden. Ihre Zerrissenheit kann ich gut verstehen.

Ich schlage ihr vor, sich auf dem einen Stuhl vorzustellen, sie habe sich getrennt. Aber Karin korrigiert: sie will keine Trennung, sondern eine Freundschaft „ohne Plus“. Noch bevor sie ihren Platz gewechselt hat, beginnt sie zu weinen.
„Das ist so schlimm,“ sagt sie, „das geht nicht… ich kann nicht Nein sagen.“ Und nach einer Weile:
„Hm, Sex ist mit ihm eigentlich eher sportlich.“ Karin merkt plötzlich, dass ihr dabei ein tieferer Kontakt zu ihm fehlt.

Auf dem zweiten Stuhl stellt sie sich vor, dass sie den Tag mit ihm genießt und alles so nimmt, wie es kommt.
Jetzt spürt sie, dass sie sich dabei übergeht und „sich anlügt“, wenn sie weiter mit ihm ins Bett geht. Und gleich drauf kommt die Frage: Wie sagt sie ihm, dass sie keinen Sex mehr möchte?
„Wie Sie es empfinden, dass sie sich anlügen würden“, schlage ich vor. Karin nickt.
Nach einer Pause fügt sie hinzu: „Wenn er ein Freund ist, wird er es verstehen“. Das fühlt sich gut an, Karin wirkt erleichtert und verlässt heiter die Praxis.

Aber wie so oft, ist das noch nicht der Weisheit letzter Schluss, und im emotionalen Speicher der Erfahrungen wartet noch etwas darauf, ins Bewusstsein zu kommen und gefühlt zu werden.
Eine Woche später berichtet sie, dass es wieder so traumhaft schön mit ihm gewesen sei. Aber jetzt fühle sie den Schmerz, dass sie ihn länger nicht sehen wird, er bereite sich auf eine Abschlussprüfung vor und habe wenig Zeit. Erst nach einem Monat würden sie sich wiedersehen.
Noch schlimmer sei es aber, dass sie eingesehen habe, dass ihre Beziehung so bleiben würde, wie sie ist. Das tue ihr sehr weh. Er wolle seine Ungebundenheit behalten und habe noch Kontakte zu anderen Frauen – und auch das werde sich nicht ändern. Sie wünsche sich aber Geborgenheit und vielleicht noch ein Kind.
Aber wo sie überhaupt den Mann finden könne, der zu ihr passt und der bei ihr bleibt?

Diesmal schlage ich Karin vor, sich den schlimmsten Moment dieser enttäuschenden Situation vorzustellen und zuzulassen.
„Wenn er weg ist, das ist das Schlimmste, dann ist alles grau und tot“, sagt Karin und beginnt zu schluchzen, während ich versuche, sie mit mitfühlenden Lauten zu begleiten.
Als sie bei diesem Moment bleibt, fühlt sie in der Brustmitte zwar den Schmerz, aber ihr wird auch bewusst, dass alles andere noch da ist, die Blumen in ihrem Garten, ihre Freundinnen, ihre Familie, einfach alles, was zu ihrem Leben gehört und ihr Freude und Verbundenheit vermittelt. Auch wenn der Schmerz noch da sei. Aushaltbar.

 „Wie schön“, sage ich, nachdem Karin zwischen dem Schmerz und dem Schönen innerlich eine Weile hin- und hergependelt ist, „dass Sie diese Liebe und Lebendigkeit spüren können!“ Ich freue mich mit ihr. Und bin gespannt auf die nächste Stunde.

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